Auf der Flucht
Aufopferungsbereitschaft, aber andererseits war er ein »fescher Kerl«, ich verstand das nicht, weil ich ihm erst viel später als Alfred in Horvàths »Geschichten aus dem Wienerwald« begegnet bin.
Mit einer Mischung aus Freude und Entsetzen erinnere ich mich daran, wie er eines Nachts in Wien, 1939, angetrunken nach Hause kam. Meine Mutter war hochschwanger und erbost, aber auch gleich versöhnt, weil er sich mit mir, den er geweckt hatte, so lustig aufgekratzt gegen sie verbrüdern konnte. Er war mit Kameraden zum Amüsieren in Baden bei Wien gewesen (die weiße Straßenbahn fuhr an der Wiedner Hauptstraße, bei uns um die Ecke, vorbei). Er trug eine schwarze SS-Uniform, als er so lustig war.
Und einmal, im Hochsommer 1939, saß ich mit Vater und Mutter (sie war wieder schwanger) bei einem Baum im Wiener Stadionbad, sie suchte mit ihrem schweren Bauch den Schatten. Mein Vater ging mit mir durch die Menge – das Bad war an dem heißen Sonntag über und über voll – zum Kinderbecken, wo er mich allein zurückließ. Er wolle kurz schwimmen gehen, sagte er. Ich wartete sehr lange, fing an, ihn zu suchen, begann Angst zu bekommen, zu weinen; ich fühlte mich mit meinen fünf Jahren verloren. Schließlich erbarmte sich ein Bademeister meiner und rief meinen Vater über Lautsprecher aus: »Der fünfjährige Hellmuth Karasek sucht seinen Vater.« Da kam er dann, bei ihm seine Chefin, eine allein stehende Frau, die es, wie meine Mutter sagte, auf ihn abgesehen habe. Sie bot mir eine Semmel mit Faschiertem an. »Du bist aber ein liabs Kind!« Ich nahm die Semmel, warf sie auf den Boden. »Ich bin kein liabs Kind!« Meine Mutter hatte gehört, wie ich ihn hatte ausrufen lassen. Ich weiß noch, dass sie und ich, in dieser Sache verschworene Komplizen, von da an seine Chefin »Liabs Kind« nannten. Horvàths Alfred als lieber Vater.
Er hat dann nicht uns verlassen, sondern sie. Ist mit uns nach Bielitz gegangen, zurück in die Stadt seiner und meiner Mutter Kindheit, wo er die Chance ergriff, die ihm die Nazis boten. Anstatt sich in das gemachte Nest eines kleinen Wiener Sportgeschäfts zu legen. Als er alt war, schon fast achtzig, hat er mich mit meiner Mutter in Hamburg besucht. Beim Spaziergang hat sie mit meiner Schwester einen anderen Weg gewählt, hat den Verabredungspunkt mit uns, meiner Frau, meinem Vater und mir, missverstanden. Wir haben uns verloren, für zwei Stunden. Und mein Vater sagte todernst, dass er sich, wäre meiner Mutter was zugestoßen, umgebracht hätte. Das war über fünfzig Jahre nach der Zeit, als ich ihn im Stadionbad gesucht hatte.
In den sechziger Jahren – ich war etwa so alt, wie mein Vater damals gewesen war – ging ich an einem heißen Sonntagnachmittag zum ersten Mal nach dreißig Jahren wieder ins Stadionbad in Wien. Allein lag ich auf der Wiese, in meiner Nähe eine Frau, älter als ich, mit der ich das Gespräch suchte. Sie hatte, wie sie mir erzählte, ein Lebensmittelgeschäft, und ich erzählte ihr, dass ich abends ins Theater müsse, ich war wegen der Festspiele hier. Fast hätte ich sie, bevor ich mich nach etwa einer Stunde von ihr verabschiedete, gefragt, ob sie mit ins Theater wolle, aber eine merkwürdige Scheu besiegte meine Neugier, und ich verließ sie, obwohl wir uns im Gespräch näher gekommen waren, als unsere Sätze erkennen ließen, und ich verabschiedete mich, ohne auch nur nach ihrem Namen und ihrer Adresse gefragt zu haben. Ich weiß noch heute, wie sie aussah, und obwohl ich nicht weiß, wie das »Liabs Kind« aussah, könnte ich schwören, dass sich die beiden ähnelten wie Mutter und Tochter. Oder wie Geschwister, die dreißig Jahre auseinander sind. Ich wollte herausfinden, was mein Vater an ihr gefunden hatte und was sie an ihm. Ich sah, wie an ihren Oberschenkeln sich Haare aus dem Badeanzug herausgeschoben hatten. Ich malte mir den Betrug meines Vater aus und wollte ihn und wollte ihn doch nicht wiederholen. Im Bad roch es wie damals nach Schweiß, Sonnenöl, gechlortem Wasser, nach gemähtem Gras. Ich möchte auch schwören, dass ich am Abend »Geschichten aus dem Wienerwald« im Theater gesehen habe, und meine Erinnerung sagt mir, dass Helmut Lohner den Alfred mit seinem Schlawiner-Charme gespielt hat. Die Aufführung hat mir das kleinbürgerliche Wien nachgeliefert, dessen modrigen Charme und dessen kulissenhafte Kleinbürgerschmierigkeit, die ich als Fünfjähriger für einen Augenblick erschnuppert hatte, als ich meinen Vater mit meiner
Weitere Kostenlose Bücher