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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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nachdem ich mich dazugeschlichen hatte, um mitzuweinen, auch gesehen. Mir war angst und weh, ohne dass ich wusste warum. Vielleicht weil ich meine Eltern so im Schmerz sah. Dabei hatte mir mein Vater erzählt, wie froh und stolz er sei, dass er nach Russland ziehen dürfe.
    Am nächsten Tag sah ich meine Freunde am Nachmittag bei den mit Spaten und Hacke arbeitenden Soldaten. Sie riefen mich zu sich. Ich rief ihnen zu, dass ich nicht zu ihnen wolle. »Das sind keine anständigen Soldaten«, rief ich. »Die anständigen sind in Russland. An der Front.«
    Der einarmige Hauptmann kam zu mir und fragte mich barsch, wer das sage. Und ich sagte ihm, dass meine Mutter das gesagt habe. Er ließ sich meinen Namen und unsere Adresse geben. Als ich Tags darauf aus der Schule kam, war meine Mutter in Todesangst. Wie ich denn so etwas weitererzählen könne, das von den unanständigen Soldaten. Obwohl sie eine kinderreiche Mutter war und die Frau eines hohen NSDAP-Funktionärs, der sich noch dazu freiwillig an die Front gemeldet hatte, bekam sie Angst, in Schwierigkeiten zu kommen. Sie hatte die deutsche Wehrmacht beleidigt. Passiert ist uns dennoch nichts.
    Ria König, jene beste Freundin meiner Mutter, wohnte nur fünf Häuser von uns entfernt, direkt gegenüber der Bialka-Brücke. Ihr ältester Sohn Friedbert war etwa so alt wie ich, er hatte eine eingefallene Brust und atmete asthmatisch. Einmal, an einem Nachmittag und einem Abend, waren meine Eltern und die Königs weg, meine Geschwister waren zu Hause bei dem Dienstmädchen, ich war bei den Königs. Wir waren fünf, sechs Kinder, auch welche von einer anderen Familie, die im selben Haus wie die Königs wohnten. Stundenlang haben wir gespielt, schließlich ein Pfänderspiel. Ich musste irgendein Pfand bei Inge König, der vierjährigen Schwester Friedberts, auslösen. Sie zog sich dazu ihr Höschen aus, sie war die Ziege und ich musste ihren Schoß und ihren Po ablecken. Ich weiß nicht, wer auf die Idee mit der Ziege gekommen war, ich weiß nur noch, dass mir das Pfandauslösen gefallen hat. Ich glaube, auch andere Jungs mussten mit Inge König Ziege spielen, wir waren alle seltsam erhitzt.
    Am nächsten Tag gefiel mir die Erinnerung an das Ziegenspiel nicht mehr. Und obwohl nicht davon gesprochen wurde, weder bei meinen Eltern noch bei den Königs, glaube ich, dass ich nie mehr bei ihnen zum Spielen war.
    Jahre später trafen wir die Familie in Sachsen-Anhalt wieder. Sie wohnten in Magdeburg und wir in Bernburg, und wir besuchten uns ein, zwei Mal. Ich war inzwischen sechzehn. Und jedes Mal, wenn mich Ria König ansah, meinte ich, dass mich ihr Blick durchbohrend durchschaute, als wäre ich der Verderber ihrer Kinder. Das lag aber auch daran, dass Friedbert, obwohl ein Koloss, inzwischen noch weiter »zurückgeblieben« war. Er ging bei der Post in die Lehre, während ich die Oberschule besuchte. Inge König, ein hübsches Mädchen, wie ich denke, habe ich dabei nicht wahrgenommen.
    Die Polka, die wir damals in Bielitz mit einem Text sexueller Anspielungen verballhornt haben, ging so weiter:
     
    Lass doch das sein, Otto! Lass doch das sein!
    Denn die Liebe, Otto, die bringt nichts ein!
    Ich hab es auch schon mal probiert
    Und hab mein ganzes Öl verschmiert.
     

Meine Ehre heißt Treue
     
    Ich war kein kleiner Held. Aber zugunsten meiner Eltern, besonders meiner Mutter, muss ich sagen, dass sie es mich nicht entgelten ließ – in Zeiten, in denen Heldentum als höchste Tugend gefragt und gefeiert wurde –, kein kleiner Held zu sein. Ich kann mich jedenfalls an keine spürbare Benachteiligung wegen des Umstandes, dass ich eher ein Feigling, Weichling und Schwächling war, erinnern.
    Mein Vater, der gute Sportler und exzellente Skifahrer, trug uns Kindern ein Gedicht immer wieder vor, es war sein eigenes und galt dem Skifahren. In dem Vierzeiler zu der Melodie »Unrasiert und fern der Heimat« hatte er seine Erfahrungen festgehalten und rezitierte ihn seinen Kindern, nicht ohne Stolz (und fast ohne Ironie): »Wer das Skifahren hat erfunden / Hat ans Wachsen nie gedacht / Der hat keine einz'ge Stunde / Auf den Brettern zugebracht.« Ich verbrachte nur wenige Stunden auf Skiern, nur im flachen Gelände der Allee, und fuhr Böschungen hinunter, die höchstens einen Meter hoch waren. Es war dann auch bald mit dem Skifahren vorbei, mein Vater war im grimmigen russischen Winter, und fast alle Skier waren als Winterhilfsspende mitgenommen worden nach Russland oder wurden in

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