Auf der Flucht
den Monaten, als das Thermometer dort auf minus zwanzig, ja minus vierzig Grad sank, gesammelt und hastig an die Ostfront geschickt – zusammen mit Socken, Pullovern, Winterjacken, Wollhandschuhen und Wollmützen.
Schlittschuhlaufen ging ich ohne Anleitung von 1943 an und setzte mich häufig und schmerzhaft auf der Eisfläche auf den Hintern. Von 1944 an hatte ich dann lange Jahre keine passenden Schuhe mehr, an die ich die Schlittschuhe hätte ankurbeln können. Dabei haben mein Vater und meine Mutter mir oft stolz und glücklich erzählt, wie sie sich beim Eislaufen auf der Schlittschuhbahn näher gekommen seien, beide Wandervögel, die das Wandern, die Berge, die Skier, die Eisbahnen liebten – Schlittschuhlaufen muss für sie so etwas gewesen sein wie für meine späteren Kinder der Disco-Besuch, den ich mit ihnen, wenn auch meist getrennt von ihnen, nachholte – nicht ohne einen Anflug von Lächerlichkeit. Aufs Eis, wo sich meine Frau und meine Tochter bewegten, bin ich ihnen nicht mehr gefolgt: Das Sprichwort vom Esel, der aufs Eis geht, wenn's ihm zu wohl wird, gehörte schon früh zu meiner Grundausrüstung an Welteinsicht.
Im Sommer nahm mein Vater mich mit ins Freibad, entweder in das hochmoderne Bielitzer Schwimmbad mit Zehnmeterturm und Sprungbrettern oder mit der Straßenbahn raus nach Zigeunerwald, wo alles Zubehör aus morschem Holz war und jeder Badebesuch damit verbunden, dass man sich Holzsplitter (»Schieber«) eintrat, die meine Mutter, die meist schwanger am Rande des Geschehens saß, mir mit einer Nadel aus dem Fuß pulte. Schwimmen war ein lustiger Sport, Schwimmen lernte ich schnell und ganz allein (deshalb auch nie ganz richtig); mein Vater war mit einer Horde von Freunden und vor allem Freundinnen hauptsächlich damit beschäftigt, die prustenden und kreischenden Frauen »unterzutauchen«, das heißt sie unter Wasser zu drücken. Es kam auf die Berührungen an, auf die Angstlust, die dieses endlos betriebene Spiel bewirkte, auf die Herrschaft des siegreichen Hahns über sein Hühnervolk, und in der Tat rief bei mir das fortgesetzte vergnügte Bemühen meines Vaters, kreischende junge Frauen unter die Wasseroberfläche zu drücken, wobei er sich von hinten mit zwei Händen auf ihre Schultern stützte, um sich über sie aufzubäumen, Assoziationen der Kopulationen auf einem Hühnerhof wach, ein Hahn, der die Hennen beim Besteigen kurz nach unten duckt. Meine Mutter sah dem aus dem Schatten mit gelassenem Vergnügen zu: Es war ja nur ein harmloses Spiel.
Auf der Straße bin ich Schlägereien und Raufereien immer aus dem Weg gegangen, ja auch weggelaufen – in der Absicht, meinen Vater zu holen, der es den Angreifern schon zeigen würde. Einmal, viele Jahre später, wir lebten in Stollberg im Erzgebirge, habe ich mich in eine etwas verwahrloste Gegend der Stadt verlaufen, wo ein paar Halbwüchsige, Sechzehn- bis Achtzehnjährige, Ball spielten, mich kommen sahen, hänselten, schlugen und nach mir traten und mir ein höhnisches Gelächter nachschickten, als ich stolpernd weglief. Da bin ich, es war Sonntag, gleich nach Hause gelaufen und habe meinem Vater weinend und stockend erzählt, was mir Demütigendes widerfahren sei.
Wo war das?, fragte mein Vater, zog sich entschlossen Schuhe und Jacke an, nahm mich bei der Hand, und ich führte ihn zu der Stelle meiner Schmach. Ich fühlte mich stark neben meinem Vater, Rache ist süß, dachte ich und zog den blutig süßlichen Schnodder in der Nase hoch.
Da! Ich zeigte von weitem auf die Jungs, die immer noch Ball spielten.
Mein Vater blieb stehen, das heißt, er verzögerte erst seine entschlossenen Schritte, nahm mich dann bei der Hand und ging rasch mit mir in die entgegengesetzte Richtung fort.
Das war 1947, zwei Jahre nach dem, was man in Deutschland »den Zusammenbruch« nannte. Für mich war das der Tag, wo die Autorität meines Vaters, mein Vertrauen in seine Stärke zusammenbrach. Was ich eigentlich schon lange hätte wissen und sehen müssen, stand mir auf einmal vor Augen: Mein Vater war niemand mehr, jedenfalls nicht gegen die Welt, in der wir als Flüchtlinge herumgeschubst wurden. Seine eigentliche Kraft, seine Familie mit seinen geringen Möglichkeiten mit Zähigkeit und unverzagtem Mut »durchzubringen« – die habe ich damals noch nicht gesehen.
Bis tief in das Jahr 1942 hinein lebten wir in einem »Großdeutschland«, das keine Grenzen mehr zu kennen schien. Wo die Freunde und Verwandten meiner Eltern verstreut
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