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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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ich, wenn überhaupt, dann durch die geschlossene Tür. Irgendwann hörte ich ein Baby quäken, ich wurde zu meiner glücklich erschöpften Mutter geführt – »Schau, da ein Geschwisterchen! Eine Schwester!«
    War ich glücklich? Traurig? Erleichtert? Bereichert? Verarmt? Um etwas gebracht? Nachträglich denke ich, dass ich mich ein wenig weiter zur Seite geschoben gefühlt habe, aber da ist keine schmerzende oder gar nagende Erinnerung daran, dass mich jemand, ein Eindringling, aus der Nähe meiner Mutter gebracht hätte.
    Ob ich damals etwas vom Storch erzählt bekam und daran glaubte, wenn auch nur wie an ein begütigendes Märchen, das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass ich Hunde beim Kopulieren beobachtet habe, Hähne, die Hühner bestiegen, Pferde, die ihr Glied ausfuhren, und dass mir auffiel, dass sie sich dabei um nichts scherten. Jahrzehnte später, als ich Büchners »Woyzeck« sah und hörte, wie der Doktor sagt, dass Woyzeck keine Scham habe, ist mir das wieder eingefallen. Aber deutlicher ist mir in Erinnerung, dass, nur drei Häuser neben unserem hochmondänen Haus mit Balkon, Zentralheizung, Kohlenaufzug, in einem Hof eine Hufschmiede war, mit gammeligen Eisenteilen und einer fauchenden Esse, die mit einem Lederblasebalg angefacht wurde. Pferde standen da, an ihren Hufen wurde geraspelt und gefeilt, auf einem Amboss das glühende Hufeisen mit Hammerschlägen zurechtgebogen, der Lehrling hielt das hochgeknickte Bein des Pferdes, der Schmied passte das Eisen an, der Huf qualmte, es roch, stank nach verbranntem Horn, das Eisen wurde in einem Eimer mit brackigem Wasser versenkt, wo es zischend seine Glut aufgab, schwarzgrau wurde; dann schlug es der Schmied mit kegelförmigen, kantigen Nägeln in den Huf, was das Pferd klaglos erduldete. Die meisten Pferde waren verschnitten, wo ihr Geschlecht war, hing ein schrumpeliger faltiger schwarzer Hautsack. Mir taten sie leid, wenn sie mit ihren Schweifen versuchten, die Fliegen zu vertreiben. Sie zuckten mit ihren sehnigen Beinmuskeln, der Schwärm flog auf; nur in den Augenwinkeln blieben die Schmeißfliegen ohne Erbarmen sitzen.
    Unserem Haus gegenüber begann eine Allee, daneben war eine Art Depotplatz der Straßenkehrer. Wenn ich sie von unserem Balkon herab beobachtete, waren sie meist damit beschäftigt, Pferdekot aus dem Kopfstein der Straße zu kratzen, mit einem Reisigbesen zusammenzufegen und mit einer Schaufel in ihre Mülleimer auf Rädern zu kippen. Es war wie in einer anderen Zeit, mitten im modernen Massenvernichtungskrieg. In der Wochenschau sah man Stukas, die mit sirenenhaft heulendem Geräusch auf Städte (zum Beispiel Warschau) herabstürzten. Und immer wieder Geschütze, die, von Soldaten geladen und gezündet, losdonnerten, die Landser hielten sich die Ohren zu. Und in unserer Straße zündeten Gaslaternenanzünder, solange es noch keine Verdunklung gab, am Abend die Lichter an. Pferdewagen klapperten und rumpelten über die Straße, Pferdehufe mit ihren Stollen schlugen Funken auf dem Kopfstein.
    Aus der Kneipe an der Ecke der Straße, dort, wo sie noch alt, grau, voll blätterndem Putz war, floss in einem offenen Rinnsal das Abwasser in den Gulli, Erbrochenes von Kneipenbesuchern, das säuerlich stank. Wir Kinder liefen im Sommer barfuß und an schönen Apriltagen fragten wir unsere Mutter, ob wir schon barfuß hinausdürften. An Steinen köpften wir uns die großen Zehen blutig, es tat höllisch weh, wir hatten Holzsplitter in den Füßen, schnitten uns die Sohlen an Scherben auf, traten in Hufnägel. Es gab keine Hemden, die man durchknöpfen konnte, alle Männer fuhren in ihre Hemden wie Wilhelm-Busch-Figuren, in Nachthemden wie Onkel Fritz bei »Max und Moritz«. Pyjamas waren etwas luxuriös Verworfenes, Kinohelden trugen sie im Schlafwagen, Victor de Kowa, Hans Holt, Johannes Heesters. So etwas trugen Lebemänner, Schürzenjäger, »Steiger«, wie meine Mutter sie nannte.
    Mein Vater war ein Steiger. Ich wusste nichts von der Sexualität, aber ich wusste, dass mein Vater ein Steiger war. Dass er sich 4711 aus Flacons auf seine Taschentücher spritzte, bevor er wegging. Dass das Wort »fesch« sein Lieblingswort war. Dass er einerseits ein Sportler war, der an Langlaufrennen teilnahm, die Natur liebte, nie rauchte und nie trank, und dass er andererseits Sehnsucht nach einer Welt hatte, in der es schlüpfrig zuging, in der geraucht und getrunken wurde. Er war einerseits ein Familienvater mit einer schier sentimentalen

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