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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Kirche, wie sie in Bismarcks Kampf gegen die Ultramontanen entstand, als jugendliche Sexualaufklärung fungierte. Die Zugriffe raffiniert geiler Beichtväter, wie sie im »Pfaffenspiegel« geschildert werden, stimulierten die hitzige jugendliche Phantasie – obwohl sie doch zur Abschreckung gedacht waren. Ich las von Beichtvätern, Mönchen und Äbten, die ihre vom Beichten schön erhitzten Frauen noch im Beichtstuhl ins Gebet nahmen, sie sanft züchtigten, glühend küssten und heftig liebten. Und ich dachte einen Augenblick lang: Abt! Das möchte ich werden.
    Obwohl mir mein Vater, der »gottgläubig« war (und an Gott nur in der Natur, in der Vorsehung und im Führerwirken glaubte), einen »gesunden« Abscheu vor den »Dunkelmännern« der katholischen Kirche beigebracht, eher vorgelebt hatte. Kirche, das war altmodisch, heuchlerisch, verlogen, ungelüftet. Das glaubte ich damals auch.
    In Wahrheit las ich Anfang der Vierziger Märchen. Märchenbücher, die ich mir mit meiner Mutter aus der Volksbücherei auslieh. Richard Leanders »Träumereien an französischen Kaminen«, die der Chirurg Richard von Volkmann unter dem Pseudonym Leander 1871 während des Deutsch-Französischen Kriegs veröffentlicht hatte. Ich weiß nichts mehr von diesen Märchen, außer dass sie mir angenehm waren, nicht so wohlig schaurig wie Andersens Märchen, die einen Helden hatten wie den Standhaften Zinnsoldaten, der in Feuersglut für seine Liebe schmolz, oder einen Tannenbaum, der gleich nach Weihnachten »geplündert« wurde und dann erst auf dem Speicher und dann auf dem Plunder landete, ein Gleichnis undankbarer Vergesslichkeit – Ex und hopp sollte diese Gesinnung später heißen und mir von Herzen fremd sein – wie ich glaubte.
    Ich war am Abend in Bielitz oft allein, nur Soscha war bei mir, unser polnisches Dienstmädchen. Sie war siebzehn oder achtzehn, vom Lande. Und es ist keine rührselige Erfindung oder Täuschung der Erinnerung, dass sie, als wir wegmussten, geweint hat. Es ging ihr ja »gut bei uns«, wie meine Eltern sagten und in der Tat bin ich sicher, dass sie nie herablassend, nie beleidigend, nie kränkend zu ihr waren. Mir machte sie am Abend Kartoffelpuffer (»Platzeks«), und ich versuchte, Rekorde im Verschlingen aufzustellen. Auch holte sie mir Malzbier im Krug. Und manchmal lagen wir am Abend auf meinem Bett hatten die Strümpfe ausgezogen und kitzelten unsere Füße. Ich lachte ausgelassen, bis ich es nicht mehr aushielt, Soscha lachte auch und ich war ein wenig erschrocken, als meine Finger beim Kitzeln auf eine gelbe, weiche, feuchte, käsige Fußhaut trafen. Ich glaube, Soscha war schön mit ihren braunen Augen und ihren dunkelbraunen Haaren, aber ich weiß nicht mehr, wie sie ausgesehen hat. Wenn ich Bilder von meiner Mutter als jungem Mädchen sehe, denke ich manchmal, Soscha zu sehen. Ich hätte später gerne gewusst, was aus ihr geworden ist, aber das durfte ich nicht. Zwischen Soscha und mir gab es nie Gezänk und obwohl ich mich an nichts erinnern kann, was sie mir erzählt haben könnte, glaube ich, dass wir uns gut verstanden haben.
     

Geschichten aus dem Wienerwald
     
    Obwohl meine Mutter in den vier Bielitzer Jahren »oft« schwanger war und zweimal zu Hause eine kleine Schwester von mir »auf die Welt brachte«, habe ich mich offenbar nie dafür interessiert, wie Kinder in die Bäuche der Mütter kommen, so wenig, wie ich mir darüber Gedanken machte, warum im Herbst die Blätter abfielen. Dass die Kinder aus dem Bauch auf die Welt kommen, hatte damals den Zweck, dem Führer Kinder zu schenken. Und dafür bekamen die Frauen das Mutterkreuz. Meine Mutter hat das Soll mit meiner jüngsten Schwester erfüllt und als mein jüngster Bruder zur Welt kam, war der Krieg verloren, wenn auch gerade mal ein paar Tage.
    Auf Mutterkreuze kam es nicht mehr an. Kinder waren eine Last. In unserem Kinderzimmer hing ein mit gemalten Girlanden aus Blüten und Herzen umkränzter Spruch: »Die Arbeit ehrt die Frau wie den Mann. Das Kind aber adelt die Mutter.«
    Als es im Februar 1941 oder im November 1943 ››so weit« war, kam eine Hebamme in unsere Wohnung. Dann war alles voller weißer sauberer Tücher, heißes Wasser dampfte in Schüsseln und Krügen, meine Mutter lag im Ehebett wie aufgebahrt, allerdings mit einem schmerzhaft stolzen, glücklichen Gesichtsausdruck. Die Hebamme regierte energisch im Haus, die anderen gingen auf Zehenspitzen und gehorchten ihren Winken. Die entscheidenden Momente erlebte

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