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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Lautsprecher-Suche in Verlegenheit brachte. Horvàth beschreibt Nazis, die noch keine Nazis sind und die noch nicht einmal wissen, dass sie es werden sollen.
     
    Wenn ich mir eines der »stehenden Bilder« (also die gleichsam im Bewusstsein festgefrorene Erinnerung meiner Bielitzer Jahre) vor meine Augen zu holen suche, dann ist es meist das Bild meiner Mutter, die mit Kinderwagen und gewölbtem Bauch am Rand der »Allee« schräg vor unserem Haus steht. In der Parkwiese schachten Wehrmachtssoldaten einen Luftschutzgraben in Zickzackform aus, die ein Hauptmann, breitbeinig – er ist Invalide und hat einen schlaff herunterhängenden linken Uniformärmel – beaufsichtigt. Später wird der Graben bunkerartig überdacht sein, Erde über einem Holzverschlag; aber er wird nicht mehr zum Einsatz kommen, wir Kinder haben ihn nur tagsüber einmal neugierig besichtigt, als er fast fertiggestellt war.
    Meine Mutter steht da und unterhält sich mit ihrer Freundin Ria König, die etwas robuster als meine Mutter ist und ebenfalls schwanger. Und um die beiden Frauen herum spielen kleine Kinder, meine Schwester, die Tochter König. Die beiden Mütter unterhalten sich entspannt, ein Bild tiefsten Friedens mitten im Krieg. Manchmal steht noch eine dritte Mutter dabei, sie wohnt im Haus mit den Königs. Sie stammt »aus dem Reich«. Ihre Kinder sind in meiner Erinnerung zu blassen Schemen gebleicht, Statisten auf der Mutter-und-Kind-Bühne. Ich gehöre zu dieser Szene, bin aber gleichzeitig von ihr abgekoppelt, weil ein paar Jahre zu alt, um noch um den Kinderwagen herum zu spielen.
    Einige hundert Meter weiter, tiefer in die Allee hinein, an einem Denkmalsockel vorbei, auf dem kein Denkmal mehr steht (war da früher ein polnisches Denkmal?), gibt es eine Milchküche, in der Schwestern Babynahrung in Flaschen füllen, die ich manchmal mit einem Korb für meine kleinen Geschwister abholen darf. Die Flaschen haben verschiedenartige Gummiverschlüsse. Manchmal schaue ich zu, wie Milch und Haferschleim sterilisiert werden. Der Weg hin und zurück, die fürsorgliche Freundlichkeit der jungen Schwestern, die in der Milchküche hantieren, meine Mutter, die sich ruhig und lächelnd mit ihrer Freundin Ria unterhält, die Kinder, die im Wagen krähen oder auf dem Weg »Himmel und Hölle« hüpfen, das alles wirkt hell, friedlich, unbeschwert.
    Ich stehe mit meinen größeren Freunden, wir sind vielleicht sieben oder acht Jahre, beim ausgehobenen Luftschutzgraben. Wir sehen und hören den Soldaten zu, die mit ihren Spaten und Hacken arbeiten. In der Allee stehen zwei, drei Parkbänke. Neben den Bänken finden wir ab und zu volle Präservative.
    Von den Soldaten, wie wir uns erzählen, die da im Dunkeln mit den Dienstmädchen auf der Bank sitzen und schmusen. Wir Kinder singen zur Melodie eines damals beliebten Polkapotpourris: »Oh Hedwig, oh Hedwig / Die Nähmaschine geht nicht / Ich habs die ganze Nacht probiert / Und hab das ganze Öl verschmiert.« Ich weiß, dass dieses Lied unanständig ist, aber ich weiß nicht genau, warum. Ist es die Nähmaschine? Das Öl? Das Öl in der Nacht?
    Unsere Mütter denken, dass wir das »von den Soldaten« haben. An ihre Männer, die auch Soldaten sind, denken sie dabei nicht. Etwas später kenne ich auch das Lied von Lili Marleen. Vom Soldatensender Belgrad, von den Partisanen auf dem Balkan. In Bielitz kann man diesen Sender Belgrad hören. Den Zapfenstreich, der auf Lili Marleen folgt, habe ich noch heute im Ohr. Ebenso das Trompetensignal des Senders Krakau. Man hört die Trompete und dann die Stiefelschritte eines Soldaten auf der Burg.
    Am Abend sagt mir meine Mutter, dass ich nicht zu den Soldaten gehen soll, die den Luftschutzgraben ausheben. Da würde ich nichts Anständiges hören. Außerdem seien das keine anständigen Soldaten. Alle anständigen Soldaten seien jetzt in Russland. An der Front.
    Mein Vater ist in Russland. An der Front. In der Ukraine, er ist Feldwebel bei der Infanterie. Freiwillig. Das heißt, eigentlich wollte er zur Waffen-SS, aber die Wehrmacht ist der Waffen-SS zuvorgekommen. Was mein Vater als Pech empfindet, sollte sich später als sein Glück erweisen. Er hat »nur« gekämpft, obwohl er »mehr« wollte. Und wahrscheinlich nicht wusste, was das »mehr« bedeutete. Bevor er nach Russland fuhr – er war von der Ausbildung noch für einen Tag nach Hause gekommen – haben meine Mutter und mein Vater die ganze Nacht geweint. Ich habe das aus dem Kinderzimmer gehört und,

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