Auf der Flucht
in der Menge, die Kopf an Kopf dicht gedrängt stand und durch den Sprühregen zu Brandt hochblickte, der vom HEW-Gebäude herab sprach: Auf einmal wusste ich, er wird gewinnen, ich vermeinte den Sog zu verspüren, der ihn und seine neue Politik der Öffnung – anstelle der jahrelangen Konfrontation – an die Macht bringen würde. Solche Szenen haben immer etwas Suggestives, etwas von Massenpsychose, vom Rausch, vor dem einem auch angst wird, vor allem in Deutschland, wo Besoffensein durch politische Agitation zu den schrecklichsten kollektiven Erfahrungen zählt.
Ich war damals Redakteur der »Zeit«, aber da Augsteins Sekretärin die Lebensgefährtin (und spätere Frau) von Theo Sommer war und ich mit Augstein viel Zeit verbrachte, erlebte ich auch seinen Wahlkampf mit. Es hielt ihn nicht mehr beim »Spiegel«. Er zog in die politische Schlacht, für die FDP, und wir, seine Freunde, begleiteten ihn zu Veranstaltungen, zu vielen Vorbereitungsabenden in Gasthöfen und Hinterzimmern. Er stellte sich, ausgerechnet im erzkatholischen Wahlkreis Paderborn, als FDP-Kandidat dem im Misstrauensvotum gescheiterten Barzel. Natürlich konnte er hier nur symbolisch siegen, trotzdem endete der Wahlkampf Augsteins, der fast alles konnte, nur nicht in Bierzelten populistische Reden schwingen – glücklicherweise nicht – in einer der sympathischsten Niederlagen.
Und jetzt, 2001, wollte sich Gaus im »Sorriso« über diese Zeit unterhalten, das heißt, er wollte mir davon erzählen, all das, was sich mit meinen Erfahrungen und Erlebnissen von damals ergänzte.
Augstein war ein unruhiger Geist, der damals als »Spiegel«-Gründer und Symbolfigur des Widerstandes gegen die Restaurationszeit alles erreicht hatte, was ein Publizist erreichen kann: Er hatte Macht, er hatte Ansehen, er war in der Diskussionsgesellschaft der siebziger Jahre jünger als alle seine Gegner und Partner, und er konnte sie in Streitgesprächen mit seiner Intelligenz und hochfahrenden Ironie erledigen; er war ein junger Prinz, er war der Unangepassteste der Pressezaren von Hamburg, er war reich, hatte Charme, eine unwiderstehliche Chuzpe, er war ein Draufgänger, aber auch ein Taktierer und Kalkulierer.
Bei dieser Wahl aber, die zum Triumph für Brandt und seine Koalition wurde, hatte er sich verkalkuliert. Hatte er vor der Wahl nämlich damit gerechnet und darauf gehofft, dass SPD und FDP zwar gewinnen könnten, aber knapp (die Umfragetechnik war noch nicht auf ihrem heutigen Niveau), so war der überwältigende Sieg der Sozialliberalen für Augstein auch deshalb ein Problem, weil er, der in seinem Gewerbe, in seinem allmächtigen Magazin als eine Art Alleinherrscher angesehen wurde, auf einmal in einer ziemlich großen FDP-Fraktion nur einer unter vielen war. Galt vor dem Misstrauensvotum, dass jeder FDP-Mann gehätschelt, gepflegt, mit Bedeutung versehen werden musste, damit die Koalition Bestand hätte, so war Augstein jetzt in der Abstimmungsmaschine im Bundestag einer, auf den es nicht mehr entscheidend ankam. Weder bei Abstimmungen noch sonst.
Was ihm bisher zum Vorteil gereicht hatte, schlug auf einmal zu seinem Nachteil aus. Hatte er in der Partei von der Pike auf gedient? Hatte er die geduldige Ochsentour all seiner Parteifreunde hinter sich? War er durch Ortsvereine gezogen? Hatte er Hände auf Handelstagen geschüttelt, Babys geküsst, Brücken eingeweiht? »Möge er«-Reden auf Jubilare und Parteifreunde gehalten? Nichts davon! Er hatte als mächtiger Publizist stets im Rampenlicht gestanden, geerntet, wo andere gesät hatten. Abgeräumt, wo andere geackert hatten. War reich und berühmt dabei geworden, während andere grau und geduckt unter ihren Lasten erst jetzt ans Ziel kamen. Da man ihn nicht dringend brauchte, schob man ihn als Seiteneinsteiger, als Greenhorn, zur Seite. Da wollte einer Offizier, gar General sein. Und hatte nicht einmal gedient.
Gaus erzählte mir, wie Augstein eine fürchterliche Lähmung überfallen habe in Bonn. Wie er unter der Mediokrität des Abgeordneten-Alltags gelitten habe. Wie er – das erzählte Gaus mit besonderem Genuss – im Bonner Büro des »Spiegel« (damals einer der wichtigsten Schaltstellen des deutschen Journalismus) herumgesessen, ja herumgelungert habe, weil er nichts zu tun hatte – darin, wie sich das Gaus ausmalte, lag viel Erkenntnis, wie sie nur Rachsucht zeitigt. Die Bonner Kollegen hätten ihn, Gaus, den Augstein für die Zeit seines Ausflugs in die große Politik (also für immer?
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