Auf der Flucht
zum Zerreißen ideologisiert und dementsprechend mit heftigen Gefühlen aufgeladen, in der Öffentlichkeit gab es nur Hass oder Liebe, Rot oder Schwarz; der junge deutsche Staat hatte noch wenig Übung, Machtwechsel zu proben, wie es westliche Demokratien, etwa die USA oder England, seit Jahrhunderten gewohnt waren.
Man konnte das jetzt wieder mit Händen greifen, als Ex-Präsident Clinton im Juli 2004 in Deutschland seine »Memoiren« auch im Fernsehen vorstellte. Da fragte ihn Johannes B. Kerner, ob der Glückwunschbrief, den er seinem Nachfolger George W. Bush geschrieben habe, reine Routine gewesen sei. Und zur Überraschung der Zuhörer sagte Clinton, ja, zwar sei das einerseits Routine, eine alte Gewohnheit, aber dennoch habe er seine Wünsche für Bush (der doch wahrscheinlich nur durch einen Auszählungsfehler in Florida und dessen Billigung durch den Supreme Court in sein Amt gekommen sei) schon deshalb sehr persönlich gehalten, weil Vater Bush ihm, acht Jahre zuvor, einen besonders herzlichen Brief zu seiner Amtsübernahme geschrieben habe. Auch Sätze, wie der nach dem 11. September, dass George W. Bush »sein Präsident, weil der aller Amerikaner« gewesen sei, den er in der Afghanistan-Politik vorbehaltlos unterstützt habe, hat die deutschen Zuschauer, die doch alle im Auftritt Clintons ein Ventil und eine Bestätigung für ihre hasserfüllte Bush-Ablehnung suchten und zu finden hofften, irritiert. Politische Kontinuität über den demokratischen Wechsel hinaus, das ist bis heute etwas, das bei vielen Deutschen nicht die Erwartung hochexplosiver Schwarz-weiß-Zuordnungen erfüllt.
Ich gestehe, auch ich habe das Anfang der siebziger Jahre noch nicht begriffen. Doch möchte ich mich jetzt auch daran erinnern, dass es die »Lichtgestalt« John F. Kennedy war, unter der nicht nur das »Schweinebucht«-Abenteuer in Kuba stattfand, sondern die auch für die ersten tapsigen Schritte sorgte, die die USA in den Vietnam-Krieg als das blutigste Abenteuer ihrer Nachkriegsgeschichte stolpern ließen. Und dass es Nixon war, das verhasste Feindbild auch der deutschen Linken, der mit Henry Kissingers Hilfe diesen Krieg beendete. Und noch eine Merkwürdigkeit: Als Ronald Reagan in Berlin prophezeite, die Mauer werde fallen, da demonstrierten 500000 Menschen gegen diesen »kriegstreiberischen« Präsidenten.
Und eine weitere kleine Geschichte zum Thema: Helmut Kohl hat mir erzählt, dass er den todkranken Willy Brandt in seiner Wohnung besucht habe. Und Brandt, obwohl vom Krebs schrecklich geschwächt, hat sich mit unendlicher Anstrengung aufgerafft und angezogen, um Kohl nicht als Bettlägeriger zu empfangen. Als Kohl dem Kranken sagte, dieser Mühe hätte er sich doch nicht unterziehen müssen, hat Brandt geantwortet, er werde seinen Bundeskanzler doch nicht im Bett liegend empfangen.
Bei dieser Gelegenheit fiel mir ein, mit welcher Entgeisterung ich in der Phase der Wiedervereinigung erlebt habe, dass der SPD-Vorsitzende Brandt »seinem« Kanzler Kohl damals viel näher war als seinen Enkeln, die mit der Chance der Einheit als Sternstunde deutscher Nachkriegsgeschichte so gut wie nichts anzufangen wussten. Und obwohl es gewiss nicht allen sympathisch vorkommen muss, wie Brigitte Seebacher-Brandt sich nach Brandts Tod zur einzig authentischen Witwe und Testamentswahrerin mit kämpferischem Trotz stilisiert hat – eine Jeanne d'Arc des Vermächtnisses ihres Mannes –, so sind doch viele Geschichtsklitterungen auf diese Weise verhindert worden. In ihren wütend-hochfahrenden Artikeln in der FAZ gegen die schmächtige Kleinlichkeit der Enkel in den Fragen der Einheit, lag viel Witwen-Selbstgerechtigkeit: Ich sage euch, wer Willy wirklich war! Aber ich las sie mit wachsender Zustimmung. Sie waren nicht nur selbstgerecht, sondern gerecht.
Doch zurück zur Zeit nach dem Misstrauensvotum. Damals ging ein frischer Luftzug durch die politische Landschaft Deutschlands. Man konnte es bei jedem Wahlauftritt Willy Brandts spüren: Der Sieg seiner Politik, die Bestätigung seiner sozialliberalen Koalition lag in der Luft, man musste den Finger nur hochhalten, dann spürte man, wohin und woher der Wind wehte, wem er ins Gesicht blies, wer ihn im Rücken hatte. Es herrschte eine schier grenzenlose Aufbruchstimmung. Auch Deutschland drängte es, wie Vorjahren Kennedys Amerika, zu neuen Grenzen. Ich erinnere mich an den Tag, an dem Brandt nach Hamburg zum Wahlkampf kam, in die Mönckebergstraße am Gerhart-Hauptmann-Platz, ich
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