Auf der Flucht
schon fertig war, veröffentlicht. Und auch leid tat, dass ich kein weiteres über den »Spiegel« schreiben wollte. Mein »Magazin«, von dem wir bei den mittäglichen Begegnungen nur marginal sprachen, eigentlich überhaupt nicht, war nur der Anlass für Gaus gewesen, sich mit jemandem, der den »Spiegel« gut kannte, über seine Erfahrungen zu unterhalten.
Er war, wie gesagt, ein glänzender, weil analytisch scharfsinniger Erzähler. Und er war immerhin der Mann, der die radikal neue Ostpolitik von Brandt (und Egon Bahr) an ihrer schicksalhaften Schnittstelle zu vertreten hatte: in der Hauptstadt der DDR, dort, wo Ost und West durch eine Mauer getrennt waren, die den dritten Weltkrieg, die große Atombomben-Katastrophe hätte verhindern und auslösen können – beides zugleich.
Dieser Botschafter-Posten, so wusste ich und so machte mir Gaus mit wehmütigem Stolz klar, war ein absolutes Novum in der Diplomatie. Mehr als jeder Botschafterposten, ob in Rom, Paris, Washington, Peking oder Moskau. Das heißt, der Kanzler Willy Brandt hatte ihm eine ungeheure Chance eingeräumt: an der Nahtstelle der Koexistenz zu arbeiten, dort, wo die Devise »Wandel durch Annäherung« am unerbittlichsten erprobt wurde.
Nach einigen gemeinsamen Mittagessen, bei denen Gaus weiter parlierte, gern aß und auch darauf achtete, wie es mir schmeckte, endeten diese Treffen abrupt. Die Krankheit kam wieder. Sie erwies sich als nicht so »gutartig«, wie Gaus gehofft hatte. Ich traf ihn dann noch einmal, bei dem Geburtstag Frank A. Meyers in der Berliner »Bar jeder Vernunft«. Es war der Abend, an dem die Zeitschrift »Cicero« gegründet wurde und Kanzler Gerhard Schröder das Bedürfnis hatte, viele zu umarmen und von vielen umarmt zu werden. Gaus und ich hatten Blickkontakt. Ich werde seine ironisch blitzenden Blicke nicht so schnell vergessen, wenn Schröder wieder jemandem um den Hals oder in die Arme fiel.
1972, nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen die erste sozialliberale Regierung unter Willy Brandt, war die Stimmung im Land spürbar umgeschlagen. Es war die Zeit der Kämpfe um die neue Ostpolitik, die journalistisch vor allem von drei großen überregionalen Hamburger Zeitungen und Zeitschriften unterstützt wurde: Gräfin Dönhoff und Theo Sommer hatten die »Zeit« auf die »Wandel durch Annäherung«-Politik Brandts eingeschworen, das war leicht, da die Redaktion, vielleicht abgesehen vom Wirtschafts ressort unter Dieter Stolze, ohnehin aus Sympathisanten Brandts bestand, der 1969 mit dem Ruf »Mehr Demokratie wagen« angetreten war – gegen die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verkrustungen, die jeder spürte, und mehr als woanders in Norddeutschland, und noch mehr als in Norddeutschland in Hamburg. Henri Nannen machte den »Stern« so sehr zum publizistischen Instrument des neuen Öffnungswillens nach Osten, dass Bucerius, der Verleger von »Zeit« und »Stern«, sein CDU-Bundestagsmandat niedergelegt hatte – »offiziell« wegen eines »Stern«-Titels, der ironisch der scholastischen Frage nachging, ob in der Hölle Feuer brenne. Augstein, FDP-Mitglied, hatte mit seinen Freunden, den »Jung türken« in Düsseldorf, also im größten Bundesland, die Bewegung der Liberalen von der CDU zur SPD mit vorangetrieben, er sah darin die Chance, seinen publizis tischen Kampf gegen die nachwirkende Adenauer-Ära effektiver zu führen. Ich glaube, damals hat sich in ihm die Idee des »Spiegel« als »Sturmgeschütz der Demokratie« in journalistische und persönliche Überzeugung gewandelt; Günter Gaus war dafür genau der richtige Chefredakteur, seine Partei war die der erneuerten Sozialdemokratie unter Bahr und Brandt, die Grundzüge und Grundsätze der neuen Ostpolitik hatte er mit entwickelt und publizistisch verfochten.
Doch die Monate vor dem Misstrauensvotum hatten die erste sozialliberale Regierung arg gebeutelt und zermürbt, weil immer mehr Liberale in der Koalition, in der Zerreißprobe der FDP zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten, den Absprung zur Opposition vollzogen. »Gekauft«, wie man bei Hamburgs Regierungssympathisanten mit Entsetzen registrierte. Dass das Misstrauensvotum scheiterte, wirkte wie ein Befreiungsschlag in letzter Minute. Niemand hatte damals auch nur den geringsten Verdacht, dass auch das Scheitern Rainer Barzels gekauft sein könnte – noch dazu von der Stasi und ihrem für den Westen zuständigen Markus Wolf. Die Politik in Deutschland war damals bis
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