Auf der Flucht
glaube, dass Gaus, der Willy Brandt liebte und verehrte (auch wegen dessen »lübschen« Tonfalls), der schnarrende hanseatisch bellende Offizierston in der Stimme des Brandt-Nachfolgers Helmut Schmidt ebenso unangenehm in den Ohren lag wie das breite, bräsige Süddeutsche bei Strauß, Kohl oder Böhme. Jedenfalls ist es nicht ganz abwegig, den Konflikt zwischen »Spiegel« und Strauß auch von den Dialekten her zu definieren. Ein Konflikt zwischen dem baritonalen bayerischen Poltern und Grummeln – und den schneidend hohen Stimmen von Gaus und Augstein; Hannover versus München.
Jetzt jedenfalls klang er heiser am Telefon, ohne sein rhetorisches Feuer, ohne seine eitle Formulierungslust eingebüßt zu haben. Was wollte er mir erzählen? Er sprach von meinem Roman, vom »Magazin« (der damals schon einige Jahre vorlag und vielen Feuilleton-Kollegen längst zum Fraß vorgeworfen und von ihnen verschlungen worden war).
Gaus holte, wie er es unnachahmlich konnte, zu einer weiten rhetorischen Figur aus. Er müsse mir gestehen, sagte er, dass er, als er gehört habe, ich hätte einen Roman über den »Spiegel« veröffentlicht, erschrocken, ja angeekelt gewesen sei. Dieses Buch, so habe er gedacht, wolle er keineswegs anfassen, niemals zur Kenntnis nehmen, nicht einmal mit »s-pitzen« Fingern. Später einmal, fuhr er fort, und das dürfe er mir nicht verschweigen, einmal also sei er in einer Buchhandlung gewesen, habe sich einige Bücher ausgesucht, darunter, als letztes, auch mein »Magazin«, doch als er an der Kasse gestanden habe, konnte er es nicht übers Herz bringen, das Buch auch wirklich noch zu kaufen und mitzunehmen. »Nein! Das nun doch nicht!«, habe er gedacht. »Das geht zu weit!« Und also habe er, unmittelbar bevor er zahlte, den Verkäufer an der Kasse gebeten, das Buch zurückzunehmen.
Gaus machte eine wirkungsvolle Pause. Und ich war auch auf das Nötige beeindruckt, weil ich wusste, was jetzt kommen würde. Nach einer so rhetorisch aufgebauten Einleitung müsse – ex negativo – jetzt eine überraschende (in Wahrheit nicht überraschende, weil vom Adressaten erwartete) Wendung kommen. Sie kam in der Tat. Und sie war, wie es sich bei dieser Einleitung gehörte, kurz und knapp. Jetzt habe er, sagte Gaus, wider Erwarten und mit Verspätung den »Spiegel«-Roman gelesen. Und der sei gar nicht so verkehrt. Und, was wichtiger sei, überhaupt nicht unangenehm. Vieles richtig getroffen, nicht einmal ungerecht. Klar, seinem Kollegen Johannes K. Engel hätte ich Unrecht getan, den sähe ich zu negativ.
Klar, dachte ich, wie Autoren so denken, Engel hat neben Gaus und Böhme als zweiter Chefredakteur gearbeitet. Und Böhme war es, der Gaus beerbt hat und dessen Wiederkehr Jahre später zu verhindern wusste. Aber vielleicht, dachte ich als Autor auch, hat Gaus gar nicht so Unrecht, subjektiv gesehen. Wie er auch gar nicht so Unrecht hatte, subjektiv gesehen, Brandt zu verehren, der ihn zum Sonderbotschafter in Ost-Berlin machte. Und Schmidt zu hassen, ja zu hassen, mit Verachtung zu hassen, der ihm diesen Posten schließlich verleidete und ihn für das Amt des »Ständigen Vertreters« überflüssig machte. Und als er daraufhin zurück zum »Spiegel« wollte, wie es ihm beim Weggang versprochen worden war, da stellte sich ihm Böhme dann in den Weg, weil er das Ansehen und die Kraft und die Intelligenz seines Vorgängers und jetzt Möchtgern-Kompagnons fürchtete. Zu Recht, subjektiv gesehen. Auch objektiv gesehen.
Gaus sagte, dass er jeden Mittwoch in Berlin sei. Und dass er dort gerne in das italienische Restaurant »Il sorriso« in der Kurfürstenstraße, nahe dem KaDeWe, essen gehe. Und ob ich nicht Zeit und Lust hätte, mit ihm dort Mittag zu essen und mich mit ihm über den »Spiegel« und – fügte er pflichtschuldigst höflich hinzu – über mein Buch zu unterhalten. Das »Il sorriso« liegt nahe dem ehemaligen »Spiegel«-Büro – dort, wo West-Berlin besonders scheußliche Fünfziger-Sechziger-Jahre-Architektur aufzuweisen hat; aber im Lokal wachsen Kastanienbäume durch das Glasdach des Wintergartens.
Das, so erschloss ich es mir, an den drei, vier Mittwochmittagen, an denen wir anschließend nach lockeren Verabredungen Essen gingen, war natürlich der eigentliche Grund, warum er sich mit mir treffen wollte: Er wollte mir vom »Spiegel« erzählen, von seiner Trennung vom »Spiegel«. Und das hat er dann wirklich ausgiebig getan – so ausführlich, dass es mir leid tat, dass mein Buch
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