Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
Vom Netzwerk:
über die k. u. k.-»Sprachinseln« der deutschen Siedler im Osten lebten, als Nachkommen der »Siebenbürger Sachsen« oder der »Donauschwaben«, auf einmal in einem Land ohne Grenzen. Das »Protektorat Böhmen und Mähren« (also die Tschechei) gehörte ebenso dazu wie das »Generalgouvernement« (also Polen), die Schwester meines Vaters zog mit ihrem Mann aus Bukarest in Rumänien (einem verbündeten Satelliten-Staat) zurück nach Bielitz.
    Und Weihnachten 1942, als auch alle Brüder meines Vaters, mein Großvater und meine Großmutter bei uns waren, ebenso wie beide Brüder meiner Mutter, da war das wie aus einem Kriegsspiel ohne Grenzen: Mein Onkel Kurt, jüngster Bruder meines Vaters, gehörte als deutscher Leutnant zu den Belagerern Leningrads. Onkel Fredie, ein studierter Volkskundler, der die Siedlungsideologie des deutschen Drangs nach Osten (»Volk ohne Raum«) vertrat, war in Waffen-SS-Uniform unter den Tannenbaum getreten, er war der Einzige, der ganz im Sinne der Ideologie vom Julfest und der Wintersonnenwende faselte, wenn auch nicht allzu insistent und ernsthaft.
     
    Was merken Kinder, wenn sie einem siegreichen Herrenvolk angehören, was ein Sohn, dessen Vater zur siegesgewissen Elite zählt? Im Grunde wenig. Zwar war ich an die Siegesfanfaren der deutschen »Sondermeldungen« gewöhnt, die immer wieder ertönten, bevor die Versenkung von »Bruttoregistertonnen« durch U-Boote im Atlantik gemeldet wurde, die Eroberung von Kreta, der stürmische Vormarsch in Russland, die Kesselschlachten von Charkow oder Woronesch. Im Grunde erinnere ich mich, mitten im Massensterben und Massenschlachten, als der Krieg auf seinem Gipfel und vor seinem Wendepunkt stand, nur an einen Tod: an den des Hausmeistersohns Hansi Jauernik, der 1941, achtjährig, im Nachbarhaus starb.
    Hansi Jauernik wohnte im Haus links neben uns, das nicht annähernd so schön, komfortabel, elegant und luxuriös wie unseres war – und ganz gewiss gab es keine Bidets und in Kacheln eingelassene Badewannen in einem grünen Badezimmer.
    Das Nebenhaus war viel einfacher gebaut, die kleinen Wohnküchen der Wohnungen direkt neben uns verströmten ständig einen üppigen Geruch nach altem Fett und zerlassenem Speck und es roch säuerlich nach Kraut und Rüben. Hansi Jauernik wohnte im Parterre, in der Hausmeisterwohnung, und sein Vater, der Hausmeister, hatte einen ähnlich kurz geschorenen Kopf wie sein Sohn. Er war ein untersetzter Mann und sah aus, wie man Hausmeister in österreichischen Volksstücken besetzt. Da Hansis Vater auch Blockwart der NSDAP war, kam er von Zeit zu Zeit zu uns hinaufgestiegen und sammelte Kleiderspenden, Winterhilfsspenden; meine Mutter musste natürlich gerne und reichlich und vorbildlich »geben« und »spenden«, aber sie tat das auch wirklich gern, und Papa Jauernik, der natürlich einen bürstenähnlichen Schnurrbart hatte und einen gedrungenen Körper, verbeugte sich kriecherisch, bevor er sich zum Abschied zu einem zackigen »Heil Hitler!« hochreckte.
    Meine Mutter empfand weder Angst vor ihm noch Herablassung oder gar Verachtung für ihn (so etwas habe ich mir für österreichische Hausmeister erst später zusammenphantasiert und zusammengelesen), und es störte sie auch nicht, wenn ich Nachmittag für Nachmittag ins Nebenhaus ging, um im Sommer an der Teppichklopfstange im Hinterhof mit Hansi Jauernik zu spielen. Dabei ging Hansi Jauernik nicht auf meine Schule und wohnte ebenerdig, aber gedacht habe ich das eigentlich nie, obwohl ich noch weiß, wie mir der Brodem aus der Wohnküche feucht und mit einem durchdringenden Essiggeruch (so wurden die »Spirken«, der ausgelassene Speck für den Häuptlsalat, abgelöscht) ins Gesicht schlug.
    Dann spielten wir ausdauernd mit fünf, sechs anderen Kindern im Hinterhof, kletterten auf der Teppichstange herum, hatten ab und zu deswegen Zecken in den Schenkeln und Hodensäcken, hoben lockere Steine auf, unter denen es weiß und eklig wuselte, sammelten abgekratzte Streichholzköpfe in hohlen Schlüsselköpfen als Knallplättchen-Ersatz oder zersäbelten Regenwürmer und sahen, wie sie geteilt das Weite suchten, mit Mitleid verfolgten und verachteten wir sie: Jederzeit hätten wir den Regenwurmteil zerquetschen, zerdrücken können, aber wir ließen ihn laufen. Ließen wir ihn laufen? Oder überlegten wir es uns noch? Wir waren Herren über Leben und Tod, auch wenn wir Käfer zertraten – es krachte und knirschte, ein leichter Schauer, ein leichtes Frösteln lief uns

Weitere Kostenlose Bücher