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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Spalierstehen am Straßenrand an Feiertagen, wenn irgendein prominenter Naziführer angekündigt war (»Bonzen« nannten wir sie). Da war erst diese hochgestimmte Vorfreude und Erwartung, die in grenzenloser stumpfer Ernüchterung endete, wenn wir stundenlang in heißer Sonne am Straßenrand auf die Wagenkolonne oder den Durchzug der NSDAP-Formationen warteten: SS, SA, NSKK, die Hitler-Jugend, der Bund Deutscher Mädel, eine Hochstimmung, die in öde Leere umschlug.
    Mit klappernden Blechbüchsen sammelten wir für das Winterhilfswerk, aber vor allen Dingen sind wir als Jungzug oder Fähnlein stundenlang marschierend die Landstraßen in Dreierreihen oder Viererreihen entlanggezogen und haben gesungen, was das Zeug hielt. Obwohl ich mich an den Durst, an die metallisch schmeckende Flüssigkeit in der Feldflasche und vor allem an die Blasen an den Füßen bei den langen Märschen erinnere, sind mir diese von der Hitze geprägten Tage nicht in unangenehmer Erinnerung, weil wir ständig – »Ein Lied, drei, vier!« – sangen, pausenlos Soldaten-, Landsknechts-, Kriegs- und Nazi-Lieder, aus voller Kehle und voller Inbrunst, den Refrain zweistimmig. Im Lied waren wir eins, im Gesang aufgehoben. Die Welt war ein einziger trotziger Todesgesang.
    Wir sangen »Ja, die Fahne ist mehr als der Tod«, nachdem wir gesungen hatten »Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not«. Und: »Fall ich in fremder Erde / Ade, so soll es sein!« Und: »Und über uns die Heldenahnen. Deutschland, Vaterland, wir kommen schon!« Und, ausgerechnet: »Nur der Freiheit gehört unser Leben.« Und: »Es zittern die morschen Knochen.« Und: »Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren.« Und: »Leb wohl mein Schatz, leb wohl / Denn wir fahren gegen Engelland«. Und: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall!« Und: »Fridericus Rex, unser König und Herr / Der rief seine Soldaten allesamt ins Gewehr.« Und: »Prinz Eugenius, der edle Ritter / Wollt' dem Kaiser wied'rum kriegen / Stadt und Festung Belgarad!« Und: »Ein Heller und ein Batzen.« Und: »Unsre Fahne flattert uns voran / In die Zukunft ziehn wir Mann für Mann.« Und: »Oh, du schöner Westerwald.« Und: »Als die goldne Abendsonne sandte ihren letzten Schein / Zog ein Regiment von Hitler in ein kleines Städtchen ein«. Und: »In einem Polenstädtchen!« Und wir sangen: »Wir folgen der schwarzen Fahne mit dem heiligen Zeichen darin / Wir wollen nicht ruhen noch rasten, das ist ja der Siegrune Sinn.«
    Manchmal denke ich, dass die ganze Nazizeit vor allem eins war: Ein Singen, in dem eine Gemeinschaft auf Mord- und Todschlag, auf Sterben und Heldentod eingestimmt werden sollte. Und dann erschrecke ich, weil ich all diese Lieder noch Zeile für Zeile, Ton für Ton, den trotzigen Jubel eingeschlossen, im Kopf habe. Diesen ganzen Todes-Schrott und Fahnenkitsch, die Führer-Ergebenheit und den stiefelnden Gleichschritt, all das noch Wort für Wort im Kopf, jederzeit abrufbar, ja auch präsent, wenn man es nicht abruft.
    Ich erinnere mich, wie im Nachkriegsdeutschland auch durchaus vernünftige Männer (und nicht nur unbelehrbare Nazis auf ihren Traditions- und Kameradschaftstreffen) in die alten Gesänge ausgebrochen sind, so als sei ihr Kopf ein Überdruckkessel, bei dem ein Ventil geöffnet werden müsste von Zeit zu Zeit, um die angesammelte Heißluft dieser Lieder abzulassen, weil das Hirn sonst an ihnen Schaden nehmen müsste. Sie sangen dann mit einer durch vorgebliche Ironie gebrochenen Begeisterung, so als würde sie der alte Korpsgeist überwältigen. Singend war man auf diese Lieder eingestimmt worden, singend wollte man sie wieder loswerden, immer wieder loswerden. Ich habe meiner Frau einzelne Zeilen vorgesungen, vorgeblich, um ihr den dumpfen Unsinn klarzumachen, der uns singend eingetrichtert worden war. Aber war es wirklich nur das? Kafka fällt mir ein: »Die Hälse werden im Gebirge frei. Es ist ein Wunder, dass wir nicht singen.«
     
    1982 fuhr ich mit Rudolf Augstein nach Wilflingen, um Ernst Jünger zu interviewen, der gerade den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt bekommen hatte. Stundenlang unterhielten wir uns mit dem Siebenundachtzigjährigen, dann tranken wir mit ihm ein Glas Sekt, der Abend senkte sich über das schwäbische Städtchen. Zum Schluss, bevor wir uns verabschiedeten, trat Augstein auf die Terrasse ins nächtliche Freie und sang aus voller Kehle und mit vollgepumpter Brust (wobei er seine Begeisterung parodistisch übertrieb) das Lied vom

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