Auf der Flucht
sei. Nicht meine Mutter, meine Eltern erhielten den Brief, denn mein Vater war inzwischen aus Russland wieder heimgekehrt. Er hatte sich beide Füße erfroren. Als ich ihn bei den katholischen Schwestern, die ihn behandelten, neben der Kirche besuchte, sah ich die schwärzlich verfärbten Wunden. Auch am Genick hatte er einen Verband, der später eine nackte, drei Zentimeter lange Narbe zwischen den kurz geschnittenen Haaren zurückließ. Seither wanderte ein Granatsplitter durch seinen Körper – bis an sein Lebensende mit 80. Und er hatte das »EK zwei« sowie den »Gefrierfleischorden«, die Ostmedaille, die an den mörderischen Winter 1941/42 erinnerte.
Er erzählte viel von Woronesch und Charkow, vom »Iwan«, der »Hurräh« vor dem Angriff gebrüllt hätte, mit Schnaps mutig gemacht und der in die MG-Garben der Deutschen hineingelaufen, ja hineingetorkelt sei. Aber er war glimpflich davongekommen, war als NS-Funktionär auf einmal wieder, nach Frontbewährung, »u. k.«-gestellt, das heißt: in der Heimat unabkömmlich. Das war zweifach Glück: einmal, dass er bei seinem Einzug zum Militär nicht in die Waffen-SS gekommen war, obwohl er sich das doch so sehr gewünscht hatte. Und dass er jetzt, 1943 (als das KZ Auschwitz in »seinem« Kreis war) nicht mehr als Kreisorganisationsleiter nach Bielitz zurückkam. Er war zum Kreisleiter für den Nachbarkreis Teschen befördert worden. So konnte ich ihm später auch mit Mühe und Not glauben, dass er »von Auschwitz nichts gewusst« habe. »Dass da ein Arbeitslager war, ja. Dass da Juden vergast wurden, nein. Nein! Wirklich keine Ahnung! Das musst du mir glauben!«
Ich fuhr aber jetzt nach Loben an der Ostgrenze von Oberschlesien, nahe am Warthegau, um in einer Probewoche von der Waffen-SS für die Napola geprüft zu werden. Es gab in Großdeutschland damals etwa sechsunddreißig Nationalpolitische Erziehungsanstalten, die eine Mischung aus Oberschule, Kadettenanstalt und politischer Ordensburg (erst von der SA, dann von der SS beaufsichtigt) waren. Die ersten – in Plön, Potsdam und Köslin – waren »dem Führer« am 20. April 1933 zum Geburtstag geschenkt worden. Es waren ehemalige preußische Kadettenanstalten, die, nach ihrem Verbot durch den Versailler Vertrag, bis 1933 mehr schlecht als recht zu demokratischen Eliteschulen der Weimarer Republik umgeformt und nach 1933 alsbald rasch wieder in Kadettenanstalten zurückverwandelt worden waren – zu braunen Kadettenanstalten, die das »Nebenheer«, erst die SA, später die SS, mit Offizieren und die Partei mit Führungskräften versorgen sollten. Zwei der berühmtesten Schulen waren Naumburg und Schulpforta. Loben, 1941 ins Leben gerufen, sollte die künftige Elite für die Ostkolonisation ausbilden, Gauleiter für die Wehrburgen in Russland oder der Ukraine: Die Schüler kamen aus Schlesien, Oberschlesien, dem Sudetenland, dem Generalgouvernement.
Die Napolas, auch »NPEA« genannt und abgekürzt, waren in den von Hitler absichtlich und unabsichtlich chaotischen Hierarchiesträngen und Machtrangeleien der einzelnen Organisationen ins Kompetenz-Gerangel zwischen SA, SS, Erziehungsministerium und Wehrmacht geraten. 1944, als ich die braungraue Uniform mit dem feschen Schiffermützchen, den Schnürschuhen und den Überfallhosen anzog, hatte die Waffen-SS gesiegt. Aber auf meinem Koppelschloss stand: »Meine Ehre heißt Treue«. Das war das Motto der SS, mit dem sie ihre bedingungslose Ergebenheit für »Führer und Volk« demonstrierte.
Im Oktober oder November 1944 feierten wir zusammen mit den alten Veteranen der Nazi-Herrschaft auf dem Platz vor dem Rathaus die Gründung des Volkssturms. Der Musiklehrer der städtischen Oberschule hatte dazu ein Lied komponiert, eine Hymne, die mit Fanfarenklängen eröffnet wurde, zwei Töne, tatü, tata, tatü, tata, in getragener Langsamkeit. Auch den Text hatte ein Lehrer verfasst, ein pensionierter Studienrat. Er lautete:
Legt Pflug nun und Hacke
legt Zirkel und Feder nun aus der Hand.
Es loht an unserer Grenze
Ein blutigroter Brand
Nehmt Waffen und Wehre!
Es geht um unsre Ehre!
Nehmt Waffen und Wehre!
Es geht um unsre Ehre!
Und dann wieder die Fanfaren! Tatü-tata! Tatü-tata!
Wir Napola-Schüler der niederen »Züge« (die Klassen Prima bis Obersekunda waren in Annaberg) bildeten eine Seite eines Karrees mit den Luftwaffenhelfern, dem Jungvolk und den Veteranen des Volkssturms, der Spaten geschultert hatte und einige Panzerfäuste
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