Auf der Flucht
»Polenmädchen«: »Sie war das allerschönste Kind, das man in Polen findt / Aber nein, aber nein, sprach sie, ich küsse nie!«
War das Müll, der raus musste? Oder nicht auch: Aber es war eine schöne Zeit? War das die gruselig pervertierte Utopie der Hölderlin-Zeile: »Bald aber sind wir Gesang!« Eigentlich waren die Refrains das Bedrohlichste, weil sie drohten und warben, ohne einen Sinn vorzutäuschen, außer ihrer Militanz: »Heidi, heidu, heida, Heidi, heidu, heida! Heidi, heidu, hei ha-hahahaha! Heidi, heidu, heida! Heidi, heidu, heida. Heidi! Heidu! Heida!«
Meine kleinste Schwester kam damals zur Welt. Sie hieß Heidrun und wurde Heidi gerufen.
Wir sangen auch – es gab Füllstrophen zwischen den einzelnen Liedern – den Vierzeiler
Die Juden ziehn dahin, daher
Sie ziehn wohl übers Meer
Die Wellen schlagen zu
Die Welt hat Ruh!
Und erst viele, viele Jahre später kapierte ich, was ich da gesungen hatte und wo ich es gesungen hatte, nämlich in Galizien, wo die Nazis zur gleichen Zeit die Endlösung praktizierten, Juden in Ghettos pferchten, zusammentrieben, mit Autoabgasen umbrachten, zu Massenerschießungen zusammentrieben, sie schließlich in Auschwitz-Birkenau vergasten.
Erst später, durch Bruno Schulz' »Zimtläden«, durch Joseph Roths Romane vom galizischen Rand der k. u. k.-Welt, durch Louis Begley, Tisma und Kertesz habe ich erfahren, welche Welt hier vernichtet worden ist, unwiederbringlich zerstört, und dass die Mutter und Großmutter Billy Wilders, mit dem ich in den achtziger Jahren seine Biografie schrieb, in Auschwitz ausgelöscht wurden. Und das während der Zeit, als ich sang:
Die Juden ziehn dahin, daher
Sie ziehn wohl übers Meer
Die Wellen schlagen zu
Die Welt hat Ruh!
»Hellmuth, du hast eine Obsession mit Galizien«, schrieb mir Billy Wilder an den Rand des ersten Kapitels seiner Biografie. Ich habe ihm meine Obsession erklärt.
Wenn ich an den Dreck denke, der damals dem Zehnjährigen unverlöschlich in sein Gedächtnis gedrückt wurde, dann fällt es mir schwer, der entschuldigenden Behauptung »Ich habe von all dem nichts gewusst!« Glauben zu schenken. Auch das Bild von der reinen, unschuldigen Kindheit mitten im mörderischen Nazi-Krieg hält nicht Stand, wenn ich mir vergegenwärtige, dass mein Kopf nicht nur das antisemitische Triumphgeheul aufbewahrt hat, sondern auch eine Lied-Parodie, die ich von meinen Mitpimpfen außerhalb des offiziellen Marschgesangs lernte:
Am Hamburger Hafen
ein Mägdelein stand
die Hose zerrissen
das Hemd in der Hand
Die Votze war blutig
Der Bauch war so dick
Da sagten die Leute
Die Sau hat gefickt.
Es hilft mir nichts, zu behaupten, dass ich diesen widerlichen Text, als ich ihn singend meinem Gedächtnis einverleibte, nicht verstanden habe – ebenso wenig, wie ich mir die mörderische Freude darüber klarmachte, dass die Wellen über die dahin-daherziehenden Juden zuschlagen – es war ja »nur« ein Lied, nicht mal mit einer konkreten Vorstellung oder Wahrnehmung gekoppelt. Beide Lieder sind da, beide zeigen, wie die Bestialität jener Zeit mich beeinflusst hat. Ob ich sie aufgehoben habe, damit mir klar ist, in welcher Zeit ich lebte, welcher Welt ich zugehörig war? Ist das eine Ausrede? Und hilft es mir, dass ich neben die eklige Vergewaltigungsphantasie später auswendig Goethes »Nähe des Geliebten« stellte – ein Rollengedicht von weiblicher Sehnsucht.
Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.
Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt.
Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt.
Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
O wärst du da!
Ich weiß nicht, wann bei einem Neun- bis Elfjährigen in den Jahren 1943 bis 1945 die Einsicht nach und nach wuchs, dass der Krieg verloren sei. So sehr ich auch versuche, meine verschwundenen Erinnerungen wieder wachzurufen – mehr als merkwürdige, dumpfe und dunkel neblige Stimmungseindrücke werden da nicht lebendig.
Ich weiß oder ich glaube zu wissen, wie die Stimmung für einen atemberaubenden Augenblick in blankem Entsetzen erstarrte, als der Krieg gegen Russland begann. Da wurden die Erwachsenen
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