Auf der Flucht
leiser, hatten ängstliche Gesichter, sprachen hinter vorgehaltener Hand. Auch als Kind spürte ich, dass die meisten dachten: »Ob das gut geht!« Oder sogar: »Das kann nicht gut gehen.« Die Älteren erinnerten daran, dass Hitler doch als »Soldat des Ersten Weltkriegs« das Unglück und Elend des Zweifrontenkriegs erlitten habe – einen Fehler, den er nicht wiederholen wolle. Und jetzt das! Natürlich sagten sie auch, wobei ihre bedrückten Mienen sie Lügen straften: »Der Führer wird schon wissen, was richtig ist.« Und mein Großvater, der in Russland im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hatte, vermittelte meinen Eltern – wobei er mit Blick auf mich flüsterte – den Eindruck, dass Russland nicht zu besiegen sei – die Weiten, die Tiefen, die Masse an Menschen. Aber noch ehe der Schrecken die Erwachsenen erstarren ließ, setzten die Siegesfanfaren der Sondermeldungen wieder ein – »wir« brachen siegreich nach Russland ein.
Jahrzehnte später habe ich im Tagebuch des Generals Heinrich – er sollte es sein, der meinem Vater in einer Kriegslage-Besprechung Ende 1944 riet, seine Familie aus Oberschlesien zu evakuieren – gelesen, zu welch unvorstellbarer Bestialität und Brutalität der Feldzug die beiden feindlichen Heere beim Überfall auf die Sowjetunion befähigte – ein barbarischer Rückfall in die mordenden und brandschatzenden Kämpfe des Dreißigjährigen Kriegs, nur mit den technischen Mitteln der Massenvernichtung des 20. Jahrhunderts. Für mich als Kind aber waren die Juni- und Juli-Tage 1941 nur schön, voller Hitze und Sonne, voller Badetage im fröhlich lärmenden Schwimmbad. Und aus der Zeit, in der mein Vater in Russland war, erinnere ich mich vor allem an eine Vorstellung im Bielitzer Stadttheater, in die mich meine Mutter an seiner Statt mitnahm. Dort gab es roten Samt und Plüsch und Gold und Glanz, und als der Vorhang aufging, tanzte ein grell eleganter Mensch mit zu langen Gliedmaßen, wobei er Arme und Beine mit vorsichtig lasziven rhythmischen Bewegungen von sich streckte und »Onkel und Tante, ja das sind Verwandte, die man am liebsten nur von hinten sieht« sang. Und immer wieder wiederholte »von hinten sieht, von hinten sieht«. Er war absolut unheldisch, unkriegerisch, parfümiert, geschminkt, einer luxuriösen Friedfertigkeit, ja Nichtigkeit anheim gegeben: Man spielte den »Vetter aus Dingsda«.
Ende Januar 1943 kapitulierte General Paulus, den Hitler ausgerechnet einen Tag zuvor zum Generalfeldmarschall befördert hatte, in Stalingrad, und vorübergehend bemächtigte sich der Erwachsenen um mich herum die Erkenntnis: Der Krieg ist verloren! Ich erinnere mich, dass die Theater und Kinos eine Woche geschlossen waren in diesem ohnehin trüben, lichtlosen Januar. Die Welt war dunkel, die Fenster verdunkelt, die wenigen Autos hatten schwarz zugemalte Scheinwerfer, nur ein schmaler, viereckiger Sehschlitz war frei. Auf einmal schienen die Uniformen der Soldaten ihren Glanz verloren zu haben.
Ich weiß noch, wie meine Mutter sehnsüchtig auf Reden des Führers wartete, der aber nicht zu seinem Volk sprach. In der Nacht gehörte die Welt um uns herum längst den Partisanen – und nicht mehr dem »Vetter aus Dingsda«. Aber wahrhaben wollte man das alles nicht.
Im Herbst 1943 besuchte ich in Bielitz im ersten Jahr die Oberschule und die war schöner, freundlicher, heller als der »Zennerberg«, die Volksschule, auf die schon mein Vater gegangen war im Ersten Weltkrieg und die nach Pisse und Teerpappe roch. Und auch dass die Oberschule eine große Turnhalle hatte mit Pferd und Barren und Reck und Klettertau und Sprossenwand, das schreckte mich nur während der Turnstunden.
In diese Schule kamen dann bald zwei, drei Lehrer von der Napola in Loben, die als Werber für die Nazi-Eliteschulen unterwegs waren und mich, nachdem sie am Unterricht teilgenommen und mich beobachtet hatten, ausguckten. Ob sie mich auch gequält vor dem Bocksprung zögern sahen, weiß ich nicht mehr. Aber in ihren Augen war ich genau der Richtige. Arisch bis auf die Knochen, richtig deutsch, obwohl nicht richtig aus Deutschland, »aufgeweckt«, wie das meine Lehrer nannten, und mit den richtigen Eltern: der tote Opa, die lebendige Oma, Vater, Mutter und zwei Brüder des Vaters – alle in der Partei.
Ein paar Tage später erhielten meine Eltern einen Brief, in dem stand, dass ich von der Napola Loben ausgewählt und zu einer Probewoche an die Nationalpolitische Erziehungsanstalt eingeladen worden
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