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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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als Kind einen panischen Horror vor den Gräueln der Roten Armee eingeflößt. Später habe ich begriffen, dass die deutsche Wehrmacht Verbrechen wie die von Katyn beim Vormarsch in Russland mit gleicher Bestialität begangen hatte, durch den »Kommissar-Befehl«, durch Massenerschießungen sogar ins Unfassliche potenziert. Im Rückblick erwies sich die Empörung über Katyn als Eingeständnis der eigenen Untaten. So als hätte die deutsche Regierung mit ihrer Anklage der sowjetischen Morde an polnischen Offizieren ihre eigenen an russischen Kommissaren und jüdischen Zivilisten mit angeklagt. Katyn war das unfreiwillige Eingeständnis ihres verdrängten Unrechtsbewusstseins.
    Ich hätte damals auch lernen können, dass jeder Krieg Mord, Folter, Unrecht, Willkür, Massenmorde mit sich bringt. Habe ich es gelernt? Oder bei jedem Krieg wieder mit ungläubigem Entsetzen erfahren, welches Entsetzen, welche Bestialitäten jeder Krieg freisetzt.
     
    Als mich 1938 mein Vater vor seinen sportlichen Freunden zum ersten Mal überfallartig an eine Eisenstange hängte, blamierte ich mich vor ihm und ihn vor seinen Sportskameraden, indem ich so lange panisch schrie, bis ich von dem Gerät gelöst und erlöst wurde. Als ich 1952 in Bernburg an der Saale an der Karl-Marx-Oberschule Abitur machte, galt der Turn- und Sportunterricht wie in allen Diktaturen schon wieder als höchste Disziplin – ein gesunder sozialistischer Geist in einem gesunden sozialistischen Körper. Meine Russischlehrerin, die mein Versagen ahnte, versprach mir deshalb: »Hellmuth, wenn Sie ans Reck gehen, halte ich mir die Augen zu!« »Versprochen?«, flüsterte ich ihr zu. »Versprochen«, flüsterte sie, die neben mir saß, zurück. Es geschah wohl auch aus Dankbarkeit, dass ich ihr oft tröstend beigestanden und zugehört hatte, wenn sie mir von ihrer unglücklichen Liebe zu dem verheirateten Schulrat erzählte, der eine Glatze hatte, eine Brille, in der SED war und tatsächlich einen Spitzbart trug, ähnlich wie Walter Ulbricht. Ich schritt also im Turnsaal tapfer auf das Reck zu, hängte mich wie ein Sack dran, machte einen Knieaufschwung, eine Kniewelle, nachdem ich vorher meine Hände mit Magnesium eingestäubt hatte – es tat wie immer ziemlich weh. In der Kniekehle. Und beim Welledrehen auch in den Handflächen. Die Lehrerin hielt sich die sommersprossigen Hände vor das stark sommersprossige Gesicht. Ich bekam eine Vier.
     
    In unseren Zeugnissen bei der Napola gab es zwei Spalten: neun Fächer standen auf der linken Seite: Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Biologie, Englisch, Latein, Mathematik, Physik, Chemie. Und dem gegenüber acht Sportfächer auf der rechten Seite, nämlich: Geräteturnen, Leichtathletik, Kampfspiele, Schwimmen, Geländedienst, Fechten, Faustkampf, Reiten. Wenn ich mir das vergegenwärtige, erfasst mich noch heute ein mulmiger Stolz und eine übermütige Scham. Ausgerechnet ich, der ich wegen meines sportlichen Versagens in der Turnhalle oft als »Flasche«, »Nappsülze«, »Pfeife«, »Feigling«, »Angsthase«, »Schwächling« beschimpft und verlacht wurde, ausgerechnet ich habe das Probehalbjahr an der Elite-Zuchtanstalt und Hochleistungssportschule ohne Mühen bestanden, und ohne dass ich mich erinnere, unter dem exzessiven Sportunterricht mehr als die anderen, mehr als meine Kameraden gelitten zu haben.
    Hitler wollte eine Jugend, »zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und schnell wie Windhunde«, und die Napola-Lehrer bemühten sich durch pausenloses Schleifen, Drillen, Exerzieren und Üben, ihm das mit uns zu liefern. Wir sollten die besten Werkstücke sein. Leder, Stahl, Windhund – das war als trauriger Rest von der Vorstellung »mens sana in corpore sano« übrig geblieben.
    Im Winter, vor den Weihnachtsferien, hatte ich das Probehalbjahr geschafft, bestanden. Ich durfte bleiben, wo ich nicht sein wollte. Das heißt, ich hätte bleiben dürfen, hätte die Rote Armee dies nicht durch ihre Offensive Ende Dezember 1944 zunichte gemacht. Manchmal – und nicht zu selten – habe ich mich danach gefragt, was denn wohl aus mir geworden wäre, wenn die Nazis gesiegt, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Ja was wohl?
    Die Geschichte gestattet glücklicherweise keine »Was wäre wenn«-Experimente, höchstens als Heimsuchungen im Traum oder im Wachtraum. »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«, heißt Goyas berühmte Graphik. Aber ein Gedanke bleibt. Dass ich mir gegen Ende des schrecklichen Kriegs gewünscht habe,

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