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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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wäre.
    Einer der Filme, die der Reichspropaganda-Minister Goebbels drehen ließ, war der Karl-Ritter-Film »Kadetten« von 1941. Wir haben den Film aus dem Siebenjährigen Krieg damals vorgeführt bekommen. Napola-Schüler aus Potsdam, Plön und Köslin spielten die Kadetten, die sich den Russen in den Weg werfen und verschanzen, während die plündernden und mordenden Kosaken nach Berlin ziehen, eine Spur soldatesker Verwüstungen und Schandtaten hinterlassend. Ich erinnere mich noch, wie Zehn- bis Vierzehnjährige, auf Fässern stehend, von Russen an Bäume gehängt und die Fässer dann unter ihren Füßen weggeschlagen werden. Die meisten Kadetten aber werden von den Kosaken gefangen genommen, ein ehemaliger preußischer Offizier ermöglicht ihnen die Flucht, preußische Truppen entsetzen die sich in einer Redoute tapfer verteidigenden Jungen. Da stirbt die russische Zarin – das von den Nazis immer wieder erhoffte Wunder des Hauses Brandenburg – der Zar, ein Bewunderer Friedrichs II, beendet den Krieg.
    Der Film war zwar zur Einstimmung auf den Krieg und den deutschen »Drang nach Osten« gedreht worden, aber inzwischen bewahrheitete sich die verzweifelte Situation, von der er ausgegangen war: Auch die Nazis konnten schließlich nur noch auf ein solches Wunder hoffen und sahen seine Vorzeichen im Tod des amerikanischen Präsidenten Roosevelt. Einige Napola-»Jungmannen«, die als Statisten bei den »Kadetten« mitspielten, sind – eine makabre Pointe des blutigen Nazi-Finales – im Kampf um Berlin gefallen. Kein Wunder hat sie gerettet.
    Es war eine freudlose Zeit, mit zu viel Schliff und zu wenig Schlaf, einer unausgesprochenen Angst und Anflügen von dauernd geschürter Siegeshoffnung, dann war von »Wunderwaffen« die Rede oder davon, dass der Führer das Geschick des Krieges wieder energisch in die Hand nehmen würde, um eine Wende zum Guten herbeizuführen. In einer Unterrichtsstunde im November 1944 erklärte uns ein Zugführer (Lehrer), dass sich jetzt die russischen Armeen der deutschen Reichsgrenze näherten und wie gut das für uns Deutsche sei. »Denn«, so führte er aus, »niemals kämpft ein Soldat besser und entschlossener, als wenn es gilt, Haus und Hof, Weib und Kind zu verteidigen! Kurz: die Heimat.« Für Augenblicke habe ich ihm geglaubt, habe ihm glauben wollen – bis wir wieder auf dem Appellplatz standen, in nebliger Novemberkälte, und hörten, welche Front die deutschen Heere wieder nach heldenhaftem Kampf begradigt, welche Gebiete sie wieder geräumt und in geordnetem Rückzug aufgegeben hätten, nicht ohne dem Feind schwere, schmerzhafte, ja entscheidende Verluste an Menschen und Material zuzufügen.
     
    Einmal, ein einziges Mal im Kriege – und das war schon 1943, als ich noch zu Hause bei meiner Mutter und meinen Geschwistern in Bielitz war – hatte ich etwas von bestialischen Kriegsverbrechen gehört und erfahren. Das war, als die deutsche Armee bei Smolensk im Wald von Katyn in einem Massengrab mehrere tausend ermordete polnische Offiziere entdeckt hatte, die 1939 beim Einmarsch der sowjetischen Armee in Ostpolen in Gefangenschaft geraten und von den NKWD-Truppen »liquidiert«, das heißt brutal erschossen und ermordet worden waren. Die Wochenschau berichtete von den Ermordeten – Beamte, Gutsbesitzer, vor allem Offiziere –, die Nazi-Regierung holte eine Kommission des neutralen schwedischen Roten Kreuzes zu den Funden in Katyn, um die Sowjetunion wegen eines fürchterlichen Verbrechens gegen die Menschlichkeit anzuklagen. Für mich war das ein albtraumhaft nachhaltiges Kindheitserlebnis – auf zwiefache Weise. Denn zum einen hatte ich durch das, was ich über Katyn hörte, sah und las (es unterstützte Meldungen über sowjetische Gräuel und die Bilder, die sich mir durch den Propaganda-Film »Kadetten« in meine Angstvorstellungen gegraben hatten), auf der Flucht eine geradezu panische Angst, den sowjetischen vormarschierenden Soldaten in die Hände zu fallen. Aber zum anderen hat es mein Entsetzen über die Morde der deutschen Armee und Waffen-SS, als ich Jahre später von ihnen hörte, Dokumente las und sah, auf grauenhafte Weise potenziert. Dass nämlich diejenigen, die die gleichen unvorstellbaren Verbrechen an Juden, Zivilisten, Kriegsgefangenen, Kommissaren begangen hatten (und das in einer unfassbaren Größenordnung), den Zynismus aufbrachten, im Krieg Empörung und moralische Entrüstung über ähnliche Verbrechen zu heucheln. Was in Katyn geschah, hat mir

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