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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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mitführte. Wir von der Napola haben – wenn ich mich recht erinnere, ziemlich hochmütig – nicht so richtig mitgesungen. Was da vor sich ging, wirkte auf uns (das ahnten wir eher, als wir es gewusst hätten) zu spießig, zu zivil, zu bieder, zu wenig fanatisch. Unser Kernspruch, den wir uns immer wieder elitär vorsagten, lautete:
     
    Wenn einer von uns müde wird,
    der andre für ihn wacht.
    Wenn einer von uns zweifeln sollt,
    der andre gläubig lacht.
     
    Das Städtchen Loben lag in einer flachen Heidegegend mit riesigen Lärchen- oder Kiefernwäldern, einer Landschaft, die auf mich kalt und feindselig wirkte. Die Napola war vier Kilometer außerhalb der Stadt, und wir durften nur in Gruppen dorthin gehen. Ich habe so gut wie keine Erinnerung an den Ort, an die Menschen, die doch wahrscheinlich mehrheitlich Polen waren.
    Von der Probewoche weiß ich nur noch, dass wir vor allem sportlich geprüft wurden. Und obwohl die meisten Jungen vor Fremdheit fröstelnd zusammengezogen und geduckt in der fremden Umgebung herumstanden, die vor allem aus einem Sportplatz und einer Turnhalle zu bestehen schien, und eigentlich hofften, unbehelligt wieder nach Hause fahren zu dürfen, war die »Mutprobe«, der Sprung von der Gitterleiter, der Höhepunkt der Selbstaufgabe von uns Napola-Aspiranten.
    Wir stiegen fast alle bis zur obersten Sprosse hinauf, um uns dann wie Säcke mutig, also willenlos in die Tiefe fallen zu lassen. Von den vielleicht dreißig Jungen, mit denen ich die Mutprobe teilte – erst sahen wir zu, wie die andern hochkletterten, um dann mit ausgebreiteten Armen herunterzustürzen, dann kletterten wir selber dem Sturz entgegen, höher, als wir es uns zutrauen wollten –, haben sich mindestens vier ein Bein gebrochen und fast alle die Beine verstaucht. Die Matten, die uns nach dem Fall auffingen, waren hart, das braune Leder, mit Werg gefüttert, federte kaum.
    Auch ich humpelte nach meinem Mutsprung für einige Zeit, auch ich wurde für diesen Mutbeweis mit der Aufnahme in die Schule belohnt – ich hatte etwas erreicht, was ich gar nicht erreichen wollte, ich hatte mich selber aus meiner behüteten Kindheit, aus meiner Familie vertrieben. Ich war tiefer gesprungen, als ich es gewagt hatte, ich war höher gestiegen, als ich gewollt hatte. Ich war von dem Gruppenwahn der Mutprobanden befallen, die sich von den anderen nicht beschämen lassen wollten. Ich sollte auf der Schule etwas lernen, das man »den inneren Schweinehund besiegen« nannte.
     
    Deutschland war ein dunkles, ein verdunkeltes Land, als ich im Schuljahr 1944/45 von der Bielitzer Oberschule an die Napola Loben kam, die Zeit der Siege war vorbei. So standen wir abends vor dem Abendessen gegen halb sieben zum Appell, und ein Lehrer (Zugführer) oder ein Schüler einer höheren Klasse verlas den »Wehrmachtbericht«, in dem das Oberkommando der Wehrmacht bekannt gab, wie sich der Verlauf der Fronten vom Westen wie vom Osten und in Italien mehr und mehr den alten Reichsgrenzen näherte, wie die Flak anglo-amerikanische Flugzeuge bei ihren »Terrorangriffen« auf deutsche Städte bekämpfte. Die Meldungen handelten von Frontbegradigungen, von Rückzügen nach heldenhaften Abwehrkämpfen, bei denen dem Gegner empfindliche Verluste zugefügt worden waren, von der erfolgreichen Partisanenbekämpfung auf dem Balkan oder in Norditalien, und selbst wir Zehnjährigen verstanden, während wir die Nachrichten hörten, dass der Krieg von Tag zu Tag näher kroch.
    An vielen Nachmittagen durchkämmten wir die umliegenden Nadelwälder und sammelten von den Büschen, den Zweigen und vom Waldboden das Lametta, die silbrigen Streifen, die wie Christbaumschmuck aussahen und die die alliierten Nachtflieger vor ihren Angriffen auf die Industriegebiete um Beuthen, Oppeln, Kattowitz abgeworfen hatten, um die Radarortungsgeräte der Flak außer Gefecht zu setzen. In der Nacht gehörte Deutschland schon den künftigen Siegern und den Partisanen, die in der Dunkelheit Sabotageakte gegen deutsche Militäranlagen ausübten – das wussten wir aus den hinter vorgehaltener Hand erzählten Geschichten. Im offiziellen Wehrmachtbericht kam das nicht vor. Solche Geschichten waren als »Latrinenparolen« verpönt, und es war wohl nicht ungefährlich, sie zu erzählen, aber ich glaube nicht, dass unter uns Schülern (wir gebrauchten das offizielle Wort »Jungmannen« nicht, vielleicht war es uns damals schon ein wenig lächerlich vorgekommen) jemand dafür bestraft worden

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