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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Besseres zu sein. Die Devise war: Wer nicht gehorchen gelernt hat, kann auch nicht befehlen.
    Ich geriet wegen der »Spindordnung« in Konflikt mit den Kontrolleuren. Kurz vor dem Zubettgehen um 21.30 Uhr wurden unsere Stuben im Erdgeschoss noch einmal kontrolliert. Ein Zugführer ging durch die Räume, wir sechs bis acht Jungen standen nach dem Befehl »Stillgestanden!« reglos da und während der Lehrer die Tische, die Spinde, die Ecken der Stube inspizierte, erlaubte er uns wohl mit dem Befehl »Rührt euch« etwas lässiger (das Wort gab es damals nicht), etwas entspannter dazustehen, während er die Winkel daraufhin beäugte, ob da vielleicht Schmutz und Staub angesammelt wären, die wir übersehen hatten.
    Mein Problem war mein Spind, mein Schrank. Der Zugführer öffnete ihn, um zu sehen, ob die Wäsche, akkurat rechtwinklig gefaltet, auf Kante lag, Hemden, Unterhosen, Leibchen – alles auf Kante. Ob die Hefte, die Schulbücher so lagen und standen, wie sie zu stehen und zu liegen hatten. Jeden Abend warf er einen schrägen Blick in meinen Schrank und ich sah, wie sich seine Schildmütze mit dem runden Teller neigte. Dann hob er ein Bein, ließ den Stiefel gegen das untere Regalbrett knallen und dadurch sämtliche Fächer mit Wäsche und Schulsachen, mit Sportanzügen und Turnhosen ineinander purzeln. Die Sachen rutschten erst zur Seite und fielen dann nach unten, wo sie einen wirren Haufen bildeten. Das Gleiche veranstaltete er mit der Stange in der anderen Schrankhälfte, in der die Uniformen aufgehängt waren. Zwei chaotische Haufen in zwei Schrankhälften waren das Ergebnis seiner mit größter Verachtung ausgeführten Stiefeltritte in den Spind.
    Ich wusste: Jetzt würde es dauern. Der Zugführer würde uns verlassen, ich würde zum Schrank gehen, um dort aus dem Durcheinander die gewünschte und geforderte Ordnung wieder herzustellen. Meine Stubenkameraden würden in Rührt-Euch-Stellung warten müssen, bis ich mit dem Schrank fertig wäre, bis wieder die gewünschte Ordnung herrschte. Das würde dauern! Der Zugführer würde den Schrank abermals inspizieren und, wenn er schlechte Laune hätte oder ich der gewünschten Akkuratesse nicht mit der nötigen Sorgfalt nachgekommen wäre, abermals seinen Stiefel in den Schrank stoßen, um mein Aufräumwerk ein zweites Mal zu vernichten.
    Ich kenne meine damaligen Gefühle heute längst nicht mehr, aber sie müssen so etwas wie abgrundtiefer, weil ohnmächtiger Hass gegen den allmächtigen Erzieher gewesen sein, dessen Stiefel brutal und willkürlich meine Nachtruhe verkürzte, der mich vor meinen Stubengenossen demütigte und mich ihrer Wut, ja ihrem Hass aussetzte.
    Es war – und das habe ich schon damals verstanden – ein diabolisches System, bei dem die Strafe die Aggressionen der Kameraden weckte, sie zur Vollstreckung durch »nächtliche Stubenkeile« an mir aufstachelte. Nachträglich wundere ich mich, dass mir so wenig, eigentlich so gut wie nichts passiert ist. Ich war eben, in all dem schlampigen Unglück, ein Glückskind.
    Wenn ich an uns Schüler zurückdenke, dann denke ich nicht an Freunde, das System schweißte uns auch nicht einmal zu Kameraden zusammen. Vielmehr verbanden uns ungeheure Kraftanstrengungen, bei denen wir weder zurückbleiben noch unangenehm auffallen wollten. Wir machten mit, aber wir versuchten uns im Mitmachen wegzuducken, zu verstecken, nicht aufzufallen. Wir haben nicht zusammen gespielt, dazu hatten wir gar keine Zeit. Wir haben zusammen exerziert, zusammen geturnt. Wir haben aufgepasst, dass wir nicht aus der Reihe fielen. Wir haben uns aber auch nicht gequält, dazu hatten wir gar keine Zeit.
    Zwischen den Appellen am Morgen, am Mittag, am Abend war immer Unterricht und meistens Sport.
    Stundenlang streiften, krochen, spähten wir am Nachmittag durch die Felder und Wälder, Gräben und Wiesen in der leeren Landschaft der Umgebung und spielten Krieg im richtigen Krieg. Wir wurden in zwei Heere aufgeteilt, bekamen verschiedenfarbige Wollfäden um den Arm gebunden, rot und weiß. Dann schlichen wir aufeinander zu, belauerten uns, überfielen uns aus dem Hinterhalt. »Geländespiel« hieß diese Übung. Wenn wir aufeinander stießen, überfielen wir uns wild und brutal. Wir versuchten, dem Feind sein andersfarbiges Band abzureißen. Gelang uns das, war er »tot«. Wie meine Halma-Männchen, die »gefallen« waren, wenn ich sie beim Spielen umkippte. Die Gruppe, die am Schluss noch mehr Soldaten mit Band hatte, war Sieger.

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