Auf der Flucht
Gefangene wurden nicht gemacht, es galt »tot oder lebendig«. Dass es dabei zu brutalen Raufereien kam, ist klar. War die Schlacht, war der Krieg vorbei, kam es wegen der Übergriffe beim Raufen um das Lebensband zu Streitereien. Die galten als Ehrenhändel und mussten anschließend im Boxkampf, als Duelle ausgefochten werden. Ich weiß noch heute, wie schwer mir die Hände in den Boxhandschuhen von Runde zu Runde wurden, unglaublich schwer, während wir von den Mitschülern, die im Kreis um uns herumstanden, angefeuert wurden.
Nachmittags, von 17.00 bis 18.45 Uhr, saßen wir in unseren Arbeitsstuben, jeder an seinem Tisch, und machten Hausaufgaben. Die Zeit habe ich auch genutzt, um meinen Eltern Briefe zu schreiben, die nur eine Botschaft hatten. »Holt mich hier raus!« und »Ich will nach Hause!« und »Bitte! Bitte!« Und weil wir als gute Deutsche keine verdrückten Geheimnisse voreinander haben sollten, keine Heimlichkeiten, bei denen man sich nicht ins Auge sehen konnte, schrieb ich die Briefe »offen«. Das heißt, mein Zugführer, also mein Klassenlehrer, las sie, bevor er sie an meine Eltern losschickte. Das Wort Zensur kannte ich damals nicht, obwohl ich, wenn ich mich recht erinnere, beim Briefschreiben schon ahnte, manches nicht schreiben zu können und manches anders ausdrücken zu müssen, als ich es eigentlich wollte.
Ich weiß nicht mehr, ob es mir gelungen ist, meine Wünsche gleichzeitig in all ihrer Heftigkeit auszudrücken und sie doch zu verschweigen. Aber einmal kam mein Sportlehrer, ein imponierend vierschrötiger Mann mit klirrenden Stiefelsporen und einer schwarzen SS-Uniform, gab mir meinen Brief zurück, sagte, er sei sehr enttäuscht, weil ich gegenüber meinen Eltern meine Kameraden angeschwärzt hätte, und ob ich den Brief so abschicken und nicht doch lieber neu schreiben wolle. Natürlich habe ich den Brief neu geschrieben. Und obwohl ich nicht wusste, was eine moralische Nötigung ist, habe ich sie sofort verstanden und befolgt. Wahrscheinlich habe ich mich sogar geschämt.
In einem der Antwortbriefe meiner Eltern, die auf Zeit setzten und mich deshalb baten, noch ein Weilchen auszuhalten, war ein Zeitungsausschnitt beigefügt, durch den mich mein Vater wissen ließ, dass er für seine Arbeiten am deutschen Ostwall – er baute Panzersperren in der benachbarten Slowakei, einmal, in den Ferien, bin ich mitgefahren – mit dem »deutschen Kreuz in Silber« ausgezeichnet worden war. Der Zugführer, der auch diesen Brief schon vor mir gelesen hatte, fragte mich, ob ich stolz sei. Und ich war natürlich stolz auf meinen Vater. Ja, ich war stolz, aber mir war auch klar, dass dies eine ablehnende Antwort auf meinen Wunsch war, heimgeholt zu werden. Die Nachmittage, als ich beim Schreiben und beim Lesen lernte, das zu umschreiben, was ich dachte und was ich wollte, sind mir seltsam traurig und seltsam heimelig im Gedächtnis geblieben.
Irgendwann in der Adventszeit fasste ich einen Entschluss. Ich schlich meinem Sportlehrer nach, der sporenklirrend ins nur halb erleuchtete Nachbarhaus ging, vorbei am Musikzimmer, wo eine Gruppe Streicher musizierte. Ich folgte dem großen schweren Mann, der trotzdem elegant wirkte, vorsichtig.
Noch heute sehe ich die Lederstellen, die bei seinen schwarzen Breeches das Gesäß und die Schenkel grau abbildeten. Noch heute rieche ich das schwere süßliche Parfüm, das er wie eine Schleife hinter sich herzog. Ich überholte ihn, stellte ihn und bat, ihn sprechen zu dürfen. Er blieb stehen, breitbeinig, und hörte mir zu. Und ich hörte mich sagen, dass ich mich entschieden hätte, die Schule nicht mehr verlassen zu wollen. Er schlug mir auf die Schulter, drückte mir die Hand und sagte, wie sehr ihn das freue. Mir war entsetzlich elend und wohlig zugleich und ich dachte, dass ich das, was ich gesagt hatte, nicht eigentlich hatte sagen wollen, aber doch froh war, es herausgebracht zu haben, weil er, der Lehrer, mich dafür lieben und anerkennen müsste.
Glücklicherweise warf der Krieg meine Unterwerfungserklärung über den Haufen. Die Napola, der ich mich hingeben wollte für immer, zumindest bis zum Ende meiner Schulzeit, gab es wenige Monate später nicht mehr. »Meine Ehre heißt Treue« war wie ins Nichts zerfallen.
»Der kleine Soldat«
An einem der letzten Dezembertage 1944, es war der 29. oder 30., standen meine Mutter und ich mit meinem Bruder Horst, meiner Schwester Ingrid und meiner Schwester Heidrun an einem frühen dunklen Morgen
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