Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
Vom Netzwerk:
er möge noch dauern, er solle nicht verloren gehen, wir Deutschen sollten ihn, wenn das Unmögliche möglich wäre, doch noch gewinnen! Mit meinem nachträglichen Wissen schäme ich mich dafür. Ich hatte mir, ohne es zu wissen, gewünscht, die Todesmaschinerie von Auschwitz bliebe weiter in Takt, die Todesmühlen würden weiter mahlen. Städte weiter in Schutt versinken, Soldaten weiter unter Durchhalteparolen sterben.
     
    Abgesehen vom abendlichen Singsang (»Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu«) erinnere ich mich nicht an eine stramme ideologische Erziehung. Einmal, ja, da hat uns unser Klassenlehrer, ein kleiner dicklicher Mann mit einem fast randlosen Himmlerzwicker vor den Augen, die Vertreibung aus dem Paradies nach Adams und Evas Sündenfall erklärt. »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.« Und er hat uns dann zu erklären versucht, dass wir Deutschen, wir Germanen, im Unterschied zu den Juden die Arbeit nicht als Schimpf und Schande und nicht als Fluch empfänden, sondern als ehrende Pflicht. Ich weiß noch genau, dass ich das Wort Pflicht aus seinem Munde nicht ausstehen konnte, schon weil es ein Zungenbrecher für den Mann mit dem blitzenden Zwickel und der schweißig-rosigen Haut war: »Pflicht«, stieß er hervor und spuckte dabei einen Strahl in meine Richtung, so dass ich unwillkürlich mit dem Kopf zur Seite fuhr. Ich glaube, das war das einzige Mal, dass ich etwas über Juden im Unterricht hörte, wir waren auch noch sehr klein als Quintaner.
    Aber groß genug, um fast rund um die Uhr geschunden und geschliffen zu werden, biegsames Material für die Abrichtung. Um 6.30 Uhr wurden wir geweckt und in dünnen Leibchen mit bläulich fröstelnder Gänsehaut auf den Sportplatz zum Frühsport gescheucht. Anschließend wurden wir zum Waschen und zum Bettenbauen getrieben. Die Schlafstuben lagen im Obergeschoss der zweistöckigen barackenartigen Gebäude. Unten waren die Tagesräume für sechs bis acht Schüler. Die gleichen sechs bis acht schliefen in einem Schlafsaal, neben dem ein Waschraum war, der mit seinen primitiven Rohren und Duschen eher einer Waschküche glich. Bettenbauen hieß vor allem, das Laken über die Matratze faltenlos spannen, bevor man die grauen Wolldecken und dünnen Kissen, zu akkuraten Rechtecken gefaltet, drauflegte. Der Morgen war für viele Schüler ein furchtbares Schrecknis, wenn sie entdeckten, dass sie nachts das Bett genässt hatten. Erschrocken sahen sie den gelben Flecken, die farblich verschwimmenden Ränder. Panisch versuchten sie, mit der Faust den Flecken wegzureiben, sie wetzten und wetzten, bis ihnen die Finger heiß und wund wurden. Umsonst. Der Fleck blieb. Und als kurz darauf die Betten inspiziert wurden, fand der aufsichtsführende Zugführer schnell die drei, vier Bettnässer heraus. Ihre Betten wurden zerstört, das heißt, sie mussten von neuem mit dem Bettenbau beginnen, die Heimmutter, eine Hamburgerin mit einem scharfen, hageren Gesicht, schlecht gefärbten wasserstoffblonden Strähnen und einer schrecklich verrauchten Stimme – sie war die einzige Frau, die mir von der ganzen Schule erinnerlich ist –, brachte schimpfend und die Delinquenten verhöhnend neue Laken. Wir andern, die wir trocken durch die Nacht gekommen waren, mussten, in Habachtstellung angetreten, in der Schlafstube stehen bleiben, bis die Bettnässer ihr Bett neu gebaut hatten. Die Zeit ging für uns vom Morgenappell und vom Frühstück verloren. Da wir immer hungrig waren, dachten wir sehnsüchtig an den schleimigen, Fäden ziehenden Haferbrei, an den dünnen graubraunen Milchkaffee und die zwei Scheiben Kommissbrot, die uns zu entgehen drohten. Am Abend, beim Appell, wurden die Bettnässer des Morgens bestraft. Vor versammelter Mannschaft bekamen sie einige Stockhiebe über das Gesäß. Sie mussten sich vorbeugen, ein Kamerad die Strafe ausführen. Wir anderen sahen schweigend zu. Ich war weder gerührt noch erschreckt. Bettnässer, das war ich nicht. Und also empfand ich die allabendlichen Bestrafungen als gerecht. Aber eher war ich wohl gleichgültig, abgestumpft. Andere wurden mit einer höheren Anzahl von Stockhieben bestraft. Die hatten sich den Aufenthalt in der Krankenbaracke erschleichen wollen, indem sie Übelkeit vorspielten, vor Schüttelfrost zu zittern anfingen, und dann versucht, das Fieberthermometer heimlich in den Kaffee zu stecken, und waren dabei erwischt worden. Wir waren Häftlinge einer Zuchtanstalt, aber im Bewusstsein, etwas

Weitere Kostenlose Bücher