Auf der Flucht
habe ich auf der weiteren Flucht mitgeschleppt und, bis er leer war, wie einen kostbaren Schatz gehütet. Er und nicht meine Familie war mein wahrer Lebensmittelpunkt.
Hier auf dem Schloss der von Prittwitz und Gaffron gab es aber noch etwas, das mir gefiel. In einem düsteren ungeheizten Saal stand ein Bücherschrank, ein kostbares schönes altes Möbel, nicht sehr groß, aber bis zum Bersten gefüllt mit Büchern, die fast alle goldschnitt- und goldschriftverzierte Lederrücken hatten. Neben Technik-Sammelbänden mit Eisenbahnen und Dampfmaschinen und seltsam altmodischen Glühlampen waren da Romane und Erzählungen von Theodor Storm, Theodor Fontane, von Gustav Freytag, Josef Viktor von Scheffel, Willibald Alexis, Wilhelm Raabe und Hans Heinz Ewers, von dem ich den Roman »Alraune« las, mit schaudernder Furcht vor der zerstörerischen Kraft der hexerischen, betörend schönen Frau – dabei gab es doch wirklich mehr zu fürchten in jenen kalten Januarnächten. Und ich las Gustav Freytags »Ahnen«, Band für Band, diese Verherrlichung aufstrebender deutscher Bürger im deutschen Osten – dort also, wo ich mich befand und noch nicht wusste, dass dies bereits Vergangenheit war. Ich las von Veitel Itzig und wusste natürlich nicht, dass ich das verzerrte Porträt eines Juden las, dass der Autor ein Antisemit war, »in aller Unschuld«, ein Antisemit vor Hitler und dem Völkermord. Ich las, um den Schrecken, die Flucht zu vergessen, nüchterner gesagt: Ich habe gelesen, was es gab, und man bildet sich an dem, was man findet.
Unsere Ausweichflucht von Bielitz auf das Gut in Niederschlesien war insofern eine traurige Farce, als die Rote Armee, anders als erwartet, zuerst in Niederschlesien einen Durchbruch erzielte – die Russen erreichten den Ort, in den wir geflohen waren, eher als den, von dem wir geflüchtet waren. Diesmal stürzten wir uns ohne väterliche Hilfe Hals über Kopf in die Flucht: Der Winter wütete noch kälter mit noch heftigeren Schneestürmen und bis wir auch nur die Bahn erreichten, waren wir schon halb erfroren – aber eben nur halb, wir tauten in jedem geheizten und überheizten Raum rotbackig wieder auf, wir glühten und lebten, immer im dichten, dampfigen Kontakt mit anderen Flüchtlingen, die mit uns im stickigen Dunst der Wärme zusammengepfercht waren.
Ich halte hier einen Augenblick inne: Auf meiner Geburtsurkunde steht Brünn als Geburtsort. Brno. Die ersten vier Lebensjahre habe ich dort verbracht, meine Eltern waren tschechische Staatsbürger, mein Vater hatte seine Dienstpflicht beim tschechischen Militär in Südmähren abgeleistet. Mit deutschen Freunden, die Kellner hießen oder Langer, aber auch Zatlokal und Powischil. Viele, viele Jahre später, der Germanenspuk und Rassenwahn war längst vorbei, habe ich meinen Vater gefragt, warum er uns allen so schrecklich germanische Namen gegeben habe: Hellmuth und Horst (ausgerechnet Horst für einen in Wien Geborenen) und Ingrid (dank Ingrid Bergman ist das einer der wenigen internationalen germanischen Namen geworden) und Heidrun (besonders schrecklich). Mein jüngster Bruder, kurz nach Kriegsende im Mai 1945 geboren, hat übrigens wieder einen christlichen Namen, nämlich Peter. Gernot und Rüdiger und, um Gottes Willen, Adolf kamen nicht mehr in Frage.
Mein Vater hat mich angesehen und eine Geschichte erzählt, wie ich sie nicht erwartet hätte. Er habe nämlich, als er zum tschechischen Militär eingezogen wurde, an seinem Spind lesen müssen, dass er Valtr Karasek heiße, nicht Walter, sondern Valtr. Und damit das seinen Kindern nicht widerfahren könnte, habe er ihnen Namen gegeben, die so deutsch seien, dass sie sich nicht tschechisieren ließen. Einen Augenblick habe ich meinem Vater geglaubt. Gut, bei Hellmuth mag er sich sogar selbst geglaubt haben. Aber als Horst und Ingrid und Heidrun auf die Welt gekommen sind, da hat er doch geglaubt, dass das tausendjährige Reich ausgebrochen wäre und dass es wohl nie, nie, niemals künftig nötig sein könnte, seine Kinder durch besonders nordische Namen vor der Slawisierung schützen zu müssen.
Ich habe diesen Gedanken nicht laut geäußert. Ich wollte meinen Vater nicht in Verlegenheit bringen. Nicht so.
Aber ich dachte: Also sind wir Nazis geworden, weil mein Vater »Walter« und nicht »Valtr« heißen wollte. Das war ein Kurzschluss, aber eine Erklärung. Die erste Zeile der tschechischen Nationalhymne heißt, übersetzt: »Wo ist meine Heimat?« Die erste der
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