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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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auf dem Bahnhof von Teschen, wohin uns mein Vater mit seinem Dienstwagen, einem Mercedes-Benz, von Bielitz aus gebracht hatte. Der Bahnsteig war von einem eisigen Schneesturm halb mit Schneewehen verschüttet, halb blank gefegt worden. Mit uns warteten einige hundert andere Menschen. Die Nacht vorher hatten wir kaum geschlafen, saßen, bevor uns mein Vater wegfuhr, neben gepackten Koffern. Wir konnten nur wenig Gepäck mitnehmen, Wäsche und Kleidung in der Hauptsache, meine Geschwister waren noch klein – mein Bruder Horst fünf, meine Schwestern Ingrid drei und Heidi zwei Jahre alt –, und meine Mutter war im 5. Monat schwanger. Eine Offensive der Sowjetarmeen stand bevor, und mein Vater, als Teschener Kreisleiter mit den Ostwallarbeiten beschäftigt und für die Bevölkerung seines Kreises eher zuständig als verantwortlich, dachte, es wäre besser, uns für alle Fälle in Sicherheit zu bringen – für kurze Zeit, vorübergehend, wie er sich und uns einredete.
    Wir ließen unsere Wohnung in Bielitz also zurück, als ginge es nur kurz in die Winterferien, obwohl wir alle dumpf und wie benommen ahnten, dass wir wohl nie wieder zurückkehren würden. Wir – das waren mein Vater, meine Mutter und ich, denn ich war auf einmal und über Nacht mit meinen knapp elf Jahren zum Erwachsenen befördert: Mein Vater war nahe der Front unabkömmlich, also musste ich auf der Reise seine Rolle einnehmen. Und ich habe sie energisch eingenommen. Geschützt und getragen durch meine braungraue Napola-Uniform, Überfallhose, Jackenbluse mit Achselstücken, ein Koppel mit Koppelschloss und ein schräg sitzendes Käppi, verhandelte ich mit den Soldaten, den Bahnbeamten und Schaffnern, den »Kettenhunden« und schaffte es immer wieder, meiner Mutter und meinen kleinen Geschwistern mitten im panischen Gedränge Zugang zu überfüllten Zügen zu verschaffen. Obwohl meine Uniform eine Nazi-Uniform war und ich ein Kind, hat sie mir, soweit ich mich erinnere, nie Feindseligkeit eingetragen, sondern immer einen mit Spott gemischten Respekt; man sagte »der kleine Soldat« zu mir, wohl auch, weil ich, ohne meine »Kameraden« an der Schule, eine Rarität war, ein Unikum, ein militärisches Unikat, weder Kämpfer noch Urlauber, weder Volkssturm noch Flak. Für ein paar Wochen und Monate konnte ich tapfer und erfolgreich im allgemeinen Chaos des Misserfolgs und der Niederlagen sein, wenigstens im »Organisieren« von Eisenbahnplätzen, Lebensmitteln, Transportmöglichkeiten. Und so trat ich, vom Erfolg beflügelt, mitten im Elend aus Flucht, Kälte, Angst und Ungewissheit mit naseweiser Umsicht und frecher Besserwisserei auf; die Verzweiflung trieb mich an und ich wollte mich nicht von ihr überwältigen lassen.
    Das sagt sich heute leicht, aber es war schon eine Zeit voller Verzweiflung, in der wir tagelang auf Züge warteten, über total verschneite Landstraßen krochen, im Bus saßen und sahen, wie der Bus vor uns über die Böschung kippte, von Militärfahrzeugen auf offenen Ladeflächen mitgenommen wurden, Züge von Verzweifelten wie in einer Stampede gestürmt wurden, meine Geschwister weder Milch noch Brot bekamen – und immer die Kälte des Januar und Februar 1945, die überfüllten Wege, die chaotischen Nachtlager in Schulen, Scheunen oder Fabrikhallen. Die Welt war buchstäblich aus den Fugen geraten, die Vernichtungsorgien des Krieges schwappten ins immer schmaler werdende, längst zerstörte Hinterland, Tote in Gräben säumten den Weg, auf Plünderer wurde geschossen, Deserteure wurden abgeführt, gehängt, erschossen.
    Dabei war die erste Phase der Flucht noch verhältnismäßig leicht zu bewältigen: Mein Vater hatte für uns ein Quartier in Niederschlesien aufgetan, in einem Dorf auf einem Gut der Familie von Prittwitz und Gaffron. Dort wurden wir in einem großen Gesinderaum untergebracht, schliefen auf Säcken und hatten sogar zu essen. Mein Vater hatte uns einen 5-Liter-Blecheimer gesüßte Dickmilch besorgt und dieser Eimer war mein Schatz, mein Trost, meine Hoffnung, meine Stütze und meine Belohnung für alle Fährnisse, Leiden und Unbilligkeiten. Er stand auf der dunklen Diele, wo ich ihn abgestellt hatte, und durch ein fingergroßes Loch, dem ein anderes zur Luftzufuhr gegenüber lag, goss ich mir zwei-, dreimal hintereinander einen großen Löffel mit der süßen, klebrig gelblichen Masse voll, und während ich sie schluckte und die dicke fette Süße genoss, wusste ich: Die Welt ist noch nicht verloren. Den Eimer

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