Auf der Flucht
polnischen Nationalhymne: »Noch ist Polen nicht verloren.« Das »Deutschlandlied« begann damals mit der ersten Zeile der ersten Strophe: »Deutschland, Deutschland über alles!« Vielleicht lag das ganze Dilemma in diesen drei ersten Zeilen.
Ich blicke für einen Augenblick beim Zurückblicken weiter nach vorne: Brünn, Wien, Bielitz, Leutmannsdorf, Stollberg, Neuoelnitz, Bernburg an der Saale, Tübingen – für achtzehn Lebensjahre ein ganz schön geografisch bewegtes Leben, bei dem sich eine sprachliche Verwurzelung und kulturelle Verankerung kaum ausmachen lässt: Ich habe geböhmakelt, gewienert, habe wasserpolakisch verstanden und sächsisch gehört, bevor ich in dem Land anlegte, von dem es heute zu Recht im Werbeslogan stolz heißt: »Wir können alles – außer Hochdeutsch!« Wer so oft wie ich umgezogen, umgetrieben worden ist, kann nichts außer Hochdeutsch. Oder das, was er sich als Hochdeutsch angeeignet hat. Und jeder fragt: Wo haben Sie ihren Akzent her? Ich meine, ist das Ostpreußisch oder Österreichisch oder Polnisch?« Und man schaut mich ungläubig erstaunt an, wenn ich achselzuckend sage, inzwischen auch mit einer gewissen Ungeduld: »Das weiß ich auch nicht.« Oder vorsichtiger: »Das weiß ich auch nicht genau!«
Wenn ich meinen Akzent im Radio höre, fühle ich mich unkomfortabel, ich rutsche unruhig hin und her: Wie spricht denn der, frage ich und meine mich. Vielleicht wegen meiner Sprache ist einer meiner Lieblingswitze ein Emigrantenwitz aus dem New York der späten Dreißiger:
»What are you doing here?«, fragt der eine Emigrant.
»I'm polishing up my English!«, antwortet der andere.
»Why?«, fragt der erste zurück. »Your English is Polish enough.«
Danach drängten wir uns wieder in überfüllte Züge, wurden zusammengepfercht, hockten übereinander, in einem Gestank, der aggressiv war, als würde er einem wie mit feuchten Tüchern ins Gesicht geschlagen. Auf dem Bahnsteig Schwestern mit Hauben, mit einer fahrbaren Suppenküche, »Kettenhunde«, das heißt Soldaten mit umgehängten Schildern, die nach Deserteuren suchten, die Bahnhöfe brüchig, notdürftig geflickt, die Glasdächer zerstört oder verrußt, die Lücken mit Pappe verklebt, Ziegel- und Dreckhaufen am Rand. Plakate mit Dunkelmännern: »Psst! Feind hört mit!«, und die Parole: »Räder müssen rollen für den Sieg.« Die Lichter im Zug: verdunkelt, die Fenster schwarz gestrichen, auf Nebenstrecken Pulks von Soldaten, die auf ihre Verladung warteten. Und immer wieder: Verwundete, Verwundete, das Zeichen des Roten Kreuzes auf Güterwaggons, Verwundete, die humpelten, Verwundete mit großen Kopfverbänden, Verwundete, von zwei Schwestern gestützt, Verwundete, auf Krankenbahren vorbei getragen, Geruch von Desinfektionsmitteln, stumpfe, leere Gesichter, aus denen aller Ausdruck geflossen war, nur eine fahle Maske war übrig.
Oder: die Viehwagen, mit denen wir aus Schlesien ausgesiedelt wurden, tagelang unterwegs, ohne dass uns ein Ziel angegeben worden war. Kamen wir »nach Westen«? Oder in die Ostzone? Wir wurden in Waggons ohne Fenster gepfercht, die Türen von außen verschlossen, so wie ich es viel später in den Filmen über die Judentransporte gesehen habe. Trotzdem fehlte uns jegliche Angst, keiner der Ausgesiedelten bangte um sein Leben.
An eines erinnere ich mich wie an ein unverrückbar scharfes Bild. Dresden, wo wir nach der Aussiedlung 1946 einen Tag mit leicht geöffneter Schiebetür auf einem Nebengleis an einem Bahnhof hielten; die Stadt bot uns ihre zu Tode verletzte Silhouette, sie war wie wegrasiert. Nur Schornsteine und Häuserecken standen als Zahnstümpfe in einem leer und hohl grinsenden Horizont. Hier habe ich, zwölf Jahre alt, zum ersten Mal begriffen, dass wir den Krieg verloren hatten und wie wir ihn verloren hatten.
Erst viel später sollten sich die Brecht-Zeilen »Von den Städten wird bleiben, der durch sie hindurchging, der Wind« über diese Bilder legen – es waren die ersten einer total zerstörten Stadt, eines Ruinenfelds. Bilder, die mich später bis weit in die sechziger Jahre verfolgen sollten und in Berlin, in der Nähe der Mauer, bis über das Jahr 1989 hinaus: Schießlöcher in Mauerresten, vermauerte Fenster, Ruß- und Brandspuren, die das Gemäuer seit 1945 schwärzten; leere Fensterhöhlen, aus denen der Krieg grimmig düster in den Frieden starrte. Kein Zufall, dass wir die Barockgedichte wieder lasen, Andreas Gryphius, sein Pathos der
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