Auf der Flucht
grasten sie dann den ganzen Tag friedlich. Ich hatte ein schönes großes Butterbrot dabei und Wasser in einer Feldflasche und langweilte mich. Aber es war schön, es roch nach Gras und Sonne, Milch und Kuhfladen; während die Tiere vorne fraßen, hoben sie hinten den Schwanz und pladderten ihren dünnen Kot auf die Wiesen, der in der Hitze erstarrte und eine rissig brüchige Kruste bildete. Dann legten sie sich nieder, breit, stumpf, behäbig, mit eckig in das grobe Fell stechenden Knochen, und mahlten mit wiederkäuenden Kieferbewegungen das gefressene Gras, wobei sie säuerlich rülpsten oder, noch stehend, breitbeinig pissten. Es war wie eine ewige Ruhe, und noch heute ruft der Anblick grasender Kühe mir diese zeitlose, friedlich stumpfe Beschäftigung das Bild einer aus der Zeit gefallenen Kindheit ins Gedächtnis zurück.
Doch manchmal, wie von Insekten gestochen, sprangen die Tiere auf, stürzten wild durcheinander und auf die Rübenfelder los, die ich vor ihnen schützen sollte. Sie waren nicht zu halten, auch durch Stockhiebe nicht, erreichte ich mit wildem Laufen einzelne, stoben die anderen nur um so kopfloser davon, von nichts anderem angetrieben als der wildesten Fressgier und einem wilden Urtrieb, sich der Herrschaft zu entledigen. Dann eilte mir ein Knecht von einem Feld, auf dem er arbeitete, entgegen und half mir mit einer Mistgabel und lauten Hoh! Hoh!-Rufen, die Tiere wieder zur Ordnung zu bringen. Das passierte mir mindestens einmal am Tag, immer zu unvorhergesehenen Zeiten.
Unvergesslich ist mir die menschliche Stampede, in die wir auf der tagelangen stockenden Fahrt nach Westen, meine Mutter noch schwanger, geraten waren. Da bewegte sich der schleppende Treck, die langsam fahrende Kolonne, wir mit unserem Auto, dick eingedreckt, mittendrin. Wir fuhren über eine Straße, die auf beiden Seiten vom Wald begrenzt war, und plötzlich zuckte, wie ein Signal, ein Gerücht durch den träge dahinfließenden Strom aus Menschen, Wagen, Sack und Pack, versprengten Soldaten und Menschen mit Hand- und Leiterwagen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Parole »Die Russen kommen!«. Nun sprengte alles wild durcheinander, Pferde richteten sich wiehernd vor ihren Fuhrwerken auf, brachen aus dem Geschirr, nachdem sie von ihren Lenkern vergeblich zur Eile angepeitscht worden waren, Männer rannten von ihren Wagen, von ihren Familien weg in die Wälder. Wagenräder brachen, Kühe, an Leiterwagen gebunden, rissen sich los, Kinder schrien, Frauen kreischten, Menschen purzelten von ihren Fahrzeugen, wurden überrollt, niedergefahren. Auf das Trittbrett unseres Autos sprangen verängstigte junge Soldaten, klammerten sich fest. Es herrschte, vielleicht eine halbe Stunde lang, ein wilder Aufruhr.
Dann setzte Erschöpfung ein, der Zug, der sich aufgelöst hatte, kam ebenso plötzlich, wie er in wilde Bewegung geraten war, zum Stehen, man sah zerbrochene Fahrzeuge, herumliegende Teile, Menschen suchten ihre Familienangehörigen, in das Chaos kehrte Ruhe ein, eine dumpfe Ruhe, die sich der rücksichtslos panischen und zerstörerischen Bewegung zu schämen schien.
Was war geschehen? Nichts war geschehen. Keine Russen weit und breit. Die Herde suchte wieder Tritt zu fassen, man bündelte sein Gepäck, soweit man es noch fand. Ich war zu Tode erschrocken.
Hat es Tote gegeben bei dieser Flucht in instinktiver Todesangst? Ich weiß es nicht und denke, dass man sich damals wenig darum kümmerte. Man war sich selbst der Nächste und ein Menschenleben zählte damals nicht viel – solange man von dem Verlust nicht selbst betroffen war.
Der Revolver meines Vaters
Nach der Kapitulation am 8. Mai, die wir bei der Fahrt des großen Trecks durch Trautenau erlebt hatten, brachte mein Vater sich in Lebensgefahr, indem er seinen Revolver behielt und im Auto versteckte, um, wie er sagte, »für alle Fälle« die Möglichkeit des Selbstmordes zu haben, damit der Familie »nichts Schlimmeres« widerfahren könne. Am Ortseingang staute sich die Kolonne. Ein paar tschechische Milizionäre entwaffneten ganze Regimenter. In der Stadt wurden tschechische Fahnen hochgezogen, das blau-weiß-rote Dreieck im Viereck. Als wir aus der Stadt herausfuhren, hatte sich die Kolonne gelöst. Mein Vater hatte also ein Stück des Weges freie Fahrt und meine ängstliche Mutter forderte ihn ständig auf: »Walter, wirf die Waffe weg, du bringst dich in Lebensgefahr.« Sie bat ihn so lange, bis er wirklich den Revolver aus dem fahrenden Auto
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