Auf der Flucht
Bauer, der uns aufgenommen hatte, würde das Auto für seine Hilfe behalten dürfen. Er gab uns auch noch Protektoratsgeld, das zwar so gut wie nichts mehr wert war, aber zum Kauf einer Fahrkarte ausreichte. Wir wanderten einen kilometerlangen Weg zu einem Ort mit einem Bahnhof. Dort warteten wir tagelang auf einen Zug nach Schlesien. Wir wurden von einem mildtätigen älteren Ehepaar aufgenommen; der Mann schimpfte mit erregter Wut auf die Nazis, die Parteibonzen, auf ihre Eitelkeit, ihre Korruption, ihre Feigheit, auf ihre lächerlichen kanariengelben Uniformen. Kanarienvögel nannte er sie, Bonzen und Kanarienvögel. Ich hörte stumm zu, weil mein Vater stumm blieb, obwohl doch eigentlich von ihm die Rede war. Es hatte eine Zeit begonnen, in der er nichts mehr zu sagen hatte. Und wenn er etwas sagte, dann musste er lügen. Wie ich schnell merkte, um sein Leben lügen, und damit um unser aller Leben.
Nach Tagen ist dann ein Zug mit Eisenbahnern nach Waldenburg in Niederschlesien gefahren, heraus aus dem Sudetenland, das jetzt wieder zur Tschechoslowakei gehörte – sieben Jahre nur nach dem Münchner Abkommen, mit dem Chamberlain den europäischen Frieden hatte retten wollen und mit dem Hitler in Wahrheit seinen Krieg begann. Als wir zum Bahnhof zogen, in einem Bündel meinen fünf Tage alten Bruder Peter, standen an einer romantischen kleinen Brücke, die über einen kleinen Bach führte, bei strahlendem Sonnenschein junge tschechische Milizsoldaten mit einer Kiste Eierhandgranaten, sie nahmen die Granaten aus der Kiste, rissen sie an und warfen sie ins Wasser, wo sie explodierten. Das alles sah eher wie ein Spiel aus, und für die Halbwüchsigen, die jetzt zu den Siegern gehörten – vorübergehend, wie sich herausstellen sollte –, war es ja wohl auch ein Spiel, ein befreiendes Spiel, ein Feuerwerk der Freiheit. Den Zug haben wir mit ordentlichen Fahrkarten bestiegen, wir saßen in einem Wagen für Reisende mit Traglasten. Der Zug fuhr unbehindert über die Grenze, die noch keine war.
In Leutmannsdorf
Leutmannsdorf war ein lang gestrecktes Straßendorf im Kreis Schweidnitz in Niederschlesien. In sanft hügeliger Landschaft lagen die Bauernhöfe an der Hauptstraße. Im hoch gelegenen oberen Teil waren sie klein und die Felder steinig, immer wieder mussten beim Pflügen Steine entfernt werden. Zum Tal hin wurden die Höfe größer und prächtiger. Am Ende des Dorfes lag ein großes Gut, aber so weit hinunter ins Dorf – dorthin, wo auch die Kirche stand – bin ich in dem Jahr, als wir dort lebten, so gut wie nie gekommen. Der Aktionsradius, den ich von unserem Wohnhaus aus hatte, war gering; schon bald vor der Tür begann die feindliche, bedrohliche Umwelt: Man konnte auf Unvorhergesehenes stoßen, auf russische Soldaten zum Beispiel, die zu Fuß oder in ihren Panje-Wagen, die von struppigen kleinen Pferden gezogen wurden, unterwegs waren, oder auf andere Unbekannte, die durch die Gegend lungerten und von denen man nicht ahnte, was sie im Schilde führten.
Wir wussten, dass Gerhart Hauptmann ganz in der Nähe – in Agnetendorf – den Krieg überdauert hatte. Die russischen Truppen hätten den in der Sowjetunion wegen seiner »Weber« hoch geschätzten Autor mit einem hohen Generalsbesuch beehrt, hieß es. Dass der greise Dichter seinen Kotau vor den Nazis gemacht hatte, wurde ausgeblendet.
Auf welche Weise uns die Geschichten über Gerhart Hauptmann und die ihn besuchenden Russen, die den greisen Dichter mit allem Lebensnotwendigen versorgten, erreicht hatten, weiß ich nicht. Alle Deutschen hatten ihre Radios abliefern müssen, der Besitz eines Rundfunkempfängers war bei Todesstrafe verboten. Nach einigen Wochen hörten wir, dass ein Arzt im Ort, der sein Gerät heimlich behalten hatte, beim Radiohören ertappt worden und danach gleich im Garten von russischen Soldaten exekutiert worden wäre. Nur ein Mann im Ort, den ich natürlich auch nur von Gerüchten kannte, soll ein Radio besessen haben und durfte es hören; er war nämlich Schweizer Staatsbürger, hatte einen Schweizer Pass. Durch ihn drangen in Abständen seltsame Gerüchte in das Dorf. Zum Beispiel, dass der britische Premier Winston Churchill »gegen die Russen« gesprochen habe und es würde bald eine Wende in der westlichen Politik einsetzen. Später habe ich erschlossen, dass es sich bei diesem Gerücht um die verballhornte Wiedergabe von Churchills berühmter »Iron Curtain«-Rede gehandelt hat, die er in den USA gehalten hatte
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