Auf der Flucht
warf. Aber er tat das offenbar so ungeschickt, dass er dabei beobachtet wurde, denn sofort nahm ein tschechisches Milizfahrzeug die Verfolgung unseres Autos auf, stoppte uns, befahl uns, aus dem Wagen zu steigen, zeigte meinem Vater die von ihm weggeworfene Waffe und forderte ihn auf, sich an die Wand zu stellen. Er tat dies, meine kleine Schwester auf dem Arm und bat die auf ihn ihre Maschinenpistolen anlegenden Milizionäre auf Tschechisch, dann doch bitte, aus Erbarmen, auch seine Familie zu erschießen.
Ein kurzer Wortwechsel. Die lebhaft gestikulierenden Tschechen führten ihn und uns zum Auto zurück, einige waren in das Haus gegangen und kamen jetzt mit Lebensmitteln heraus, mit denen sie uns beschenkten. Dann durften wir, von ihrem freundlichen Winken begleitet, weiterfahren.
Tätowierungen
Am gleichen Nachmittag wurden wir Zeuge, wie der Waffenstillstand in die Phase trat, wo es um Abrechnung ging. Unser Auto war mit kaputter Kupplung an einer Waldschneise endgültig stehen geblieben. Tschechische Nationalgardisten hatten dort einen Trupp Gefangener zusammengetrieben, die sie aussortierten nach Gut und Böse. Die deutschen Soldaten, die sich notdürftig als Zivilisten, offenbar auf der Flucht, getarnt und umgezogen hatten, waren festgenommen worden, und saßen ängstlich ergeben auf dem Boden. Der Weg gabelte sich hier, eine steile Straße führte in die Berge, in die Wälder. Ein Lastwagen kam von oben, die Bewacher scheuchten ein kleines, von den anderen getrenntes Häuflein Gefangener auf und trieben die auf einmal panisch Verängstigten auf die Ladefläche. Dann fuhr das Auto zurück in die Berge. Kurz darauf hörte man Schüsse.
Wie meine Eltern mir, nachdem sie sich mit den tschechischen Bewachern unterhalten hatten, berichteten, waren die Gefangenen nach und nach in die Berge zur Exekution gefahren worden. Sie hatten auf den Oberarmen Tätowierungen. Was dazu dienen sollte, die Soldaten der Waffen-SS im Falle einer Verwundung schnell mit den nötigen Blutkonserven zu versorgen, war jetzt zum Brandmal des Verbrechens geworden. Auch mein Vater hatte seinen Arm entblößen müssen. Dass die Wehrmacht ihn im Krieg der Waffen-SS weggeschnappt hatte, rettete ihm jetzt das Leben. Und auch, dass er vor 1938 zum tschechischen Militär eingezogen worden war, war jetzt günstig: Er konnte mit den tschechischen Siegern in ihrer Sprache kommunizieren, er hatte in der Überlebenslotterie, solange er nicht durchschaut wurde, auf einmal ein besseres Los.
Ich weiß nicht, ob die Gruppen von zwölf bis vierzehn Gefangenen, die da abtransportiert wurden, nach und nach wirklich erschossen wurden, ich weiß nur, dass die Lastwagen leer zurückkamen. Ich hatte nicht zum ersten Mal von Tätowierungen gehört, ich hatte sie am Bizeps oder den Unterarmen meist athletischer Männer schon im Freibad gesehen. Ich hatte Scherze meines Vaters darüber gehört, der von Männern erzählte, die sich »Anna, ich liebe dich« mit Herz und Anker hatten eintätowieren lassen und die das später bereuten, weil sie, längst von Anna getrennt, mit einer Marie oder Olga zusammenlebten. Jetzt hörte ich von den Tätowierungen, die ein Reich angeordnet hatte, das auf tausend Jahre angelegt war und dessen blau eingestochene Male sich nach zwei, drei Jahren in Kainsmale verwandelt hatten. Ich habe von Männern gehört, die sich ihr Blutgruppenzeichen verzweifelt auszuätzen, auszuschneiden versuchten, so wie ich versucht hatte, mein Hakenkreuz aus dem Koppel zu feilen.
Später hat mich jedes Mal ein fürchterlicher Schrecken durchzuckt, wenn mir Überlebende der Konzentrationslager ihre eingebrannte KZ-Nummer zeigten. Es war dies eine Mischung aus Unbehagen, Scham und Entsetzen. Entsetzen darüber, dass man Menschen wie Vieh gebrannt hatte, um sie zum ewigen Eigentum, zur Sache zu machen, wie Viehzüchter ihre Herde. Aber in die Scham mischte sich auch ein dumpfes Unbehagen; das Mitgefühl mit den Gebrandmarkten war davon begleitet, dass ich auf diese brutale Weise mit den Augen auf den KZ-Staat gestoßen wurde, in dem ich als potentieller Täter und nicht als mögliches Opfer gelebt hatte. Ich habe, wenn ich daran denke, wie ich jedes Mal beim Anblick einer dieser Nummern an einem lebenden, einem überlebenden Menschen zusammengefahren bin, auf einmal verstanden, wie richtig der von Henryk M. Broder oft zitierte Satz ist, dass wir Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen können.
Wir aber wurstelten uns damals durch. Der
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