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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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hatte: an den lächerlichen Panzersperren, die die T-34-Panzer der Roten Armee aufhalten sollten.
    Mit ihren voll gepackten Autos hatten sie die Stadt und den Kreis Teschen wirklich in buchstäblich letzter Minute verlassen. Bert Schramm hatte noch einen Sattelschlepper nebst Anhänger aus seiner Firma organisiert und mit wichtigem Gut beladen, wertvollen Teppichen, Würsten, wohl auch einem Schwein oder einer eingepökelten Schweinehälfte, alles, was man zum Überleben brauchte. Oder meinte zu brauchen. Schramm übernahm das Kommando. Treff- und Fixpunkte für unterwegs wurden markiert – wo man auf den Sattelschlepper warten und bei wem man übernachten wollte. Es ging auf zu neuen Ufern, Schramm wollte sich auf Grundlage seines mitgeschleppten Hab und Guts eine neue Existenz im Westen Deutschlands aufbauen.
    Wir fuhren also fast unbeschwert los. Bei uns im Auto, das sich meine schwangere Mutter mit ihren Kindern teilte, saß auch noch Frau Strempel, während mein Vater lenkte und gegen die Müdigkeit anrauchte – es war das einzige Mal, dass ich ihn in seinem Leben rauchen gesehen habe. Frau Strempel war seine Teschener Sekretärin, hatte lange schöne Beine, eine dicke Nase und dünnes, braunes Haar, das sie hinten zu einem losen Knoten gebunden hatte. Sie trug helle Blusen, ihre Figur war ein wenig knochig, leicht altjüngferlich, aber irgendwie lässig und elegant. Ich glaube mich zu erinnern, dass wir einmal an einem Wiesenrand lagerten ohne meine Mutter und mein Vater hatte seine Hand an dem schönen, glatten, relativ schlanken Oberschenkel von Frau Strempel. Ich erschrak, als hätte ich irgendwo hingeschaut, wo ich nicht hinschauen sollte und dachte später, ich hätte mich vielleicht getäuscht, aber nein, die Hand und der Oberschenkel, an dem der Rock hochgerutscht oder hochgeschoben war, stehen mir lebhaft vor Augen. Ich habe es mir so erklärt, dass mein Vater Trost suchte.
    Ich weiß nicht, wie wir zu siebt in dem Auto saßen, erinnere mich aber nicht, dass es unbequem gewesen wäre. Wir fuhren anfangs in einen schönen Frühling hinein, einsame verschlungene Nebenstraßen durch ein leichtes Gebirge, später dann zwischen Wehrmachtsfahrzeugen und Pferdewagen, in einer endlosen Fluchtlawine, die sich nach dem Westen wälzte und schob. Und aus der wir ausscherten, ausscheren mussten, weil bei meiner Mutter schon die Wehen einsetzten.
    Heute denke ich, dass mein Vater seine Hand auf den Oberschenkel von Frau Strempel, Gertrude Strempel, legte, als meine Mutter, geschwächt von Peters Geburt, in der Scheune lag. Es war ein herrlicher Maientag, das Dorf lag in einer sanft gewellten Landschaft, die Wiesen waren grün, gelb gesprenkelt von Dotterblumen und Löwenzahn, den Horizont säumten Bäume. Wieder schien die Zeit für einen Augenblick still zu stehen.
     

Letzte Kriegsspiele
     
    Ich saß mit meinem Bruder Horst auf der Wiese. Wir hatten am Wegrand Spitzwegerich abgerissen und Bündel neben uns gelegt, abgezählt, jeder zwanzig Spitzwegerichstängel mit länglich runden Köpfen, die braun und stopplig waren und von denen flüchtige zarte weiße Blüten wie Haare zu Berge standen. Wir spielten Krieg, eine Art ritterliches Turnier. Jeder nahm einen Spitzwegerichstängel mit Kopf in die Hand, hielt ihn am unteren Ende. Abwechselnd streckte der eine seinen Stängel waagrecht zum Schlag hin, während der andere mit seinem Spitzwegerich auf den entgegengestreckten einschlug. Die kantigen dünnen, manchmal saftigen, manchmal zähen Stängel boten ritterlich Widerstand, selten fiel ihr Kopf beim ersten Schlag ab, manchmal verlor auch der Schlagende sein Haupt und damit sein Leben. In unserer Vorstellung zogen da Ritter zum Zweikampf, zum Duell in eine Turnier-Arena, die abwechselnd Schwerthiebe austauschten und empfingen. Mancher Kämpfer besiegte und tötete mehrere Feinde, bevor er selber fiel. Gewonnen hatte derjenige, bei dem mindestens ein Stängel mit Kopf überlebt hatte, während des anderen Ritter alle geköpft waren.
    Mein Bruder hat mich Jahre später gefragt, ob ich noch wisse, wie das Spiel geheißen habe, das auch er noch lebhaft in Erinnerung hatte. Und ehe ich noch eine Antwort fand, antwortete er selbst. »Judenköpfen!« Und er lachte laut, gleichzeitig höhnisch darüber, was wir damals für Kinder waren. »Judenköpfen!« Mir fiel es sofort ein, aber gleichzeitig dachte ich, dass ich damals nur an Ritterspiele, nicht an das Abschlachten von Opfern gedacht hätte. Und so sagte ich schnell

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