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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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– ein erstes, frühes Signal für den Beginn des Kalten Krieges unmittelbar nach Kriegsende.
    Es gab natürlich auch keine Zeitungen. Es gab keine Busverbindungen, keine Autos, keine Reisemöglichkeiten. Wer sich zu Fuß auf den Weg machte, ging hinaus in eine ungewisse weite Welt voller drohender Abenteuer, in der Anarchie und Chaos zu herrschen schienen. Es gab keine Schulen und nach anfänglichen Versuchen, so etwas wie eine Ordnung zu etablieren, auch keine Behörden. Irgendwo, in der Kreisstadt Schweidnitz, war eine russische Kommandantur, aber diese Behörde lag weit entfernt wie der Zar im alten Russland und ihre Machtausstrahlung war rätselhaft und daher dumpf bedrohlich wie die Herrschaft, von der Kafkas »Schloss« erzählt.
    Es gab auch keine Geschäfte, die Kolonialwarenhandlung war geschlossen. Der Kaufmann allerdings versuchte ein paar Tage lang, uns Kindern Schulunterricht in seinem Geschäft zu geben. So konnten wir die sinnlos blitzenden Geräte anstaunen, in denen in längst abgelebten Zeiten, so schien es, Kaffee geröstet worden war. Die Regale und Schubladen waren leer, die Registrierkasse war ohne Funktion. Glänzende Blechschilder warben mit weißer Schrift auf grünem Grund für Persil und ein anderes, mit der braunen Flasche, machte Reklame für Maggiwürze, beides Botschaften aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt. Der Kaufmann, ein gutmütiger glatzköpfiger Herr, gab die Versuche, uns zu unterrichten, alsbald auf, so dass ich ein ganzes Jahr nichts mehr von einer anderen Schule wusste als der verwildernden Schule des Lebens.
    Wir wohnten bei Gertrude Strempel, der Sekretärin aus Teschen, die hier ihre Wohnung hatte, im ersten Stock, im Hause eines Fleischers, dessen Schlachthaus unmittelbar unter unserem Küchenfenster war. Fast täglich wurden hier Schweine und Kälber geschlachtet, die Schweine quiekten in panischer Todesangst und bekoteten sich wild zappelnd und schleuderten ihren Angstkot mit ihrem Ringelschwanz wie mit einem Propeller um sich, bevor ihnen die auf die Stirn gesetzte Bolzenpistole das Leben nahm. Es stank bestialisch und die Fliegenschwärme, die sich um das Blut, den Kot und die unter heißem Wasser abrasierten Borsten drängten, bevor das alles mit einem Wasserschlauch weggespritzt wurde, drangen mittags zu unserem Küchentisch vor und fielen in die heiße Suppe, in der sie ertranken.
    Ich schaute beim Schlachten zu, sah fasziniert, wie die Därme gedreht und gesäubert wurden, bevor sie aus einer Hackmaschine mit Wurstmasse wieder gefüllt wurden. Neben der Fleischerei lag auch der Holzschuppen und ich hackte davor auf einem Hackklotz runde Baumscheiben zu Scheiten. Einmal fuhr mir das Beil in das Schienbein, die Haut platzte auf, das Blut spritzte wie beim Schlachten und ich sah mit Ekel und Faszination, wie eine dünne gelbe Fettschicht über meinem Fleisch und unter meiner Haut hervorquoll. Es sah aus wie beim Schlachten der Kälber, Rinder und Schweine, nein, es sah eher aus wie das gelbliche Fett unter der Haut des geschlachteten Geflügels, dem die Bauern selbst den Garaus mit dem Beil auf dem Holzhackklotz machten.
    Heute denke ich erschrocken, wie frei von Mitleid ich dem Töten zusah, obwohl ich doch die Todesangst der Kreatur ohrenbetäubend hörte oder bei den dumpf muhenden Kälbern in den blutig aufgerissenen Augen sah.
    Nur einmal durchfuhr mich der Schreck des Unerwarteten: Da hatte mich ein Bauer zu einem anderen ins Oberdorf geschickt, wo ich zwei Tauben holen sollte. Der alte Bauer, der Großvater am Hof, stieg in den Taubenschlag und brachte dann zwei Tauben mit herunter, denen er vor meinen Augen ganz plötzlich und blitzschnell mit der Hand die Köpfe vom Körper riss, um mir die toten kopflosen Tiere wortlos zu übergeben. Ein Griff mit Daumen und Zeigefinger der Rechten um den Taubenhals, während die Linke den Körper festhält, ein kurzer, fester Ruck, als zöge man einen Korken aus der Flasche, und schon ist der Kopf vom Leib getrennt, in einer Schrecksekunde. Doch aus dem Taubenleib hängen blutig zerfetzte Adern und krumm die rot ihr Blut in den Staub tropfende Gurgel. Und der Alte war beim Töten völlig ungerührt, gleichgültig. Er zeigte nicht einmal so viel Gemütsbewegung wie beim Totschlagen einer Fliege, wo es doch wenigstens eine kleine Wut auf das lästige Insekt gibt.
    Nein, nicht einmal zum Vegetarier haben mich diese Erlebnisse gemacht. Man konnte damals nicht wählerisch sein, was die Nahrung betraf; ich aß, was ich

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