Auf der Flucht
er in seinem Buch »Blutwäsche«, einem großen, von Wehleidigkeit freien Buch beschreibt, hat ihn schließlich besiegt. Er war Dorfschreiber, als die Startbahn-West-Besetzer in Frankfurt in Waldhütten lebten, Freund und Gefährte Peter Härtlings. Er war von einer temperamentvoll aufbrausenden, aber mir gegenüber toleranten Rechthaberei. Meine Schwester und er waren ein Leben lang auf das Engste verbündet. Manchmal habe ich den Eindruck, sie wäre nur beruflich erfolgreich, ja reich geworden, um ihm sein schweres Leben zu erleichtern. Diese enge Beziehung wurde in dem Heim in Ullersdorf begründet, als sie ihren Trennungsschmerz meisterte, indem sie sich seiner annahm.
Ich durfte als »Großer« meine Mutter jeden Tag besuchen. In ihrem Heim steckte sie mir etwas von dem Essen zu, das sie als werdende Mutter zusätzlich bekam. Wir gingen im Park spazieren und unterhielten uns wie Erwachsene. Auch darüber, dass es kein gutes Zeichen sei, dass »der Führer« nicht selbst zu seinem Geburtstag am 20. April gesprochen habe.
Ein paar Tage später war der Führer »gefallen«. Im heldenhaften Kampf um Berlin, wie es im Rundfunk hieß. Nun wusste auch meine Mutter, dass der Krieg verloren war.
In den Ullersdorfer Wochen hatte ich in der Schule ein bisschen Tschechisch gelernt und war erstaunt, wie leicht mir diese Sprache zu fallen schien. Dann schrieben wir eine Klassenarbeit. Es ging um eine Speisekarte, Fragen waren zu stellen und zu beantworten. Ich schrieb schnell und konzentriert, wie immer. Als ich die Arbeit zurückbekam, hatte ich eine Sechs. So gut wie alles falsch, rot angestrichen. Ich hatte die erste schlechte Note meines Lebens. Und verstanden, dass sich nicht alles in drei Wochen lernen lässt.
Doch dann sammelte uns mein Vater in Ullersdorf ein und holte uns mit seinem Auto ab.
Obwohl der Krieg verloren war – oder weil er es war –, kam jetzt so etwas wie Optimismus auf. Wir waren wieder alle zusammen und machten uns auf die Flucht nach Westen, nach Karlsbad! Wir hatten wieder ein Ziel. Ein erreichbares Ziel. Ein Ziel, das innerhalb unserer Möglichkeiten lag. Wir hatten unser Schicksal wieder selbst in der Hand, es hing nicht als dunkle unabwendbare Wolke über uns wie die unabwendbare Niederlage, die wir, wie ein unabänderliches Schicksal, nicht aus eigener Kraft verhindern, sondern nur fatalistisch erdulden konnten. Ein Weg durch das »Protektorat« von Osten nach Westen, von Ullersdorf am Ostrand der Tschechei nach Karlsbad, wo schon, im Westen, die Amerikaner waren, das schien eine lösbare Aufgabe. Vom Zugriff der mörderisch anrückenden entmenschten sowjetischen Soldateska – die nach den Gerüchten und Parolen die Männer erschlugen und die Frauen vergewaltigten – in die rettenden Arme der Amerikaner und Engländer.
Es kam, der Krieg war noch nicht zu Ende, eine seltsame absurde Stimmung auf, die Hoffnung, Amerikaner, Engländer und Franzosen würden sich mit uns verbünden, um die Sowjetunion bei ihrem Eindringen nach Mitteleuropa zum Halt zu bringen. Wir wollten uns, fünf Minuten nach zwölf, auf die richtige Seite schlagen, indem wir das Gefühl in uns kultivierten, immer auf der richtigen Seite gestanden zu haben, verkannt zwar und auch durch des Führers fanatische Übertreibungen getrieben, aber der Führer war schließlich tot, unser Pakt mit ihm erloschen.
Diese Stimmung, die mich als Elfjährigen erfasste und mittrug, hätte ich damals natürlich nicht artikulieren können, weil ich sie nur aus Gesprächsfetzen von Erwachsenen aufschnappte, aber ich weiß sicher, dass ich begriff: Wir wollten uns auf die Seite der Sieger in der Niederlage schlagen. Wir gehörten zu ihnen.
Noch in den letzten Kriegstagen entstand eine neue Lebenslüge und sehr bald gab es dafür auch eine bestialisch deutliche Redensart: Die Westmächte würden sehr rasch bemerken und einsehen, dass sie »das falsche Schwein geschlachtet« hätten.
Natürlich herrschte in Wahrheit eine »Rette sich wer kann«-Stimmung. Mein Vater, den für mich noch ein Hauch von Allmacht umwehte, die er aus seinen Parteifunktionen mit in die Niederlage gerettet hatte, war mit seinem Mercedes-Benz gekommen, jetzt musste nur noch die Flucht von Ullersdorf nach Karlsbad bewerkstelligt werden. Man musste sie »organisieren«. »Organisieren«, das war das Wort der Stunde. Und so war, zusammen mit meinem Vater, sein Freund Bert Schramm aus Teschen gekommen, der eine Baufirma geführt und bis zuletzt am Krieg verdient
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