Auf der Flucht
hätte.
Die »Stunde Null«, die man ausrief – von der ich während meines Literaturstudiums erfuhr –, heißt doch auch, dass man alles Frühere wegstreichen wollte, auslöschen und ungeschehen machen. Um es gleichzeitig durch ein rosig wattiertes Bild von einem unwirklichen Wolkenkuckucksheim zu ersetzen. »Durchstreichen und weitergehen«, sagt der Major in Strindbergs »Totentanz«. Er bezieht es auf seine Ehe. Viele Deutsche bezogen es auf ihre Ehe mit Hitler.
Als ich wirklich in Wien war, hatte ich Hitler wirklich gesehen. Einmal. Meine Mutter hatte mich eines Abends zum Hotel »Imperial« geschleppt, wo ich mitten in einer Menge von Leuten wartete, dass sich »der Führer« zeige. Das war Ende 1938, glaube ich. Als der Führer hoch oben angestrahlt erschien und die Menge in Heil!-Rufe ausbrach und jubelte, soll ich zu meiner Mutter gesagt haben: »ER hat so wunderschöne blaue Augen!« Jedenfalls hat das später meine Mutter von mir erzählt. Im Zuge des unseligen Kriegsverlaufs wurden die Augen immer weniger blau, immer blasser, meine Schwärmerei immer schwächer. Dann war davon überhaupt nicht mehr die Rede.
Als mein Vater im Mai 1945 von dem Gang zu dem provisorischen Dorfältesten zurückkam, war er guten Mutes. Er brachte Gutscheine für Lebensmittel mit, für grob geschrotetes Getreide zum Backen und Breikochen (eine erreichbare Mühle gab es nicht), für Milch und für Kartoffeln, für Butter und für Fleisch. Mein Vater war sogar angestellt worden. Von der Gemeinde Leutmannsdorf. Als Bademeister. Ja, als Bademeister! Leutmannsdorf hatte nämlich ein für damalige Verhältnisse hochmodernes Schwimmbad mit Sprungturm, Schwimmbecken, Planschbecken, Umkleidekabinen, Duschen, einem Eingang mit einem Kassenhäuschen. Ein schönes Bad, das etwas außerhalb des Ortes lag. Das sollte mein Vater betreuen, pflegen, warten, sauber halten, den Kindern das Schwimmen beibringen. Mein Vater war glücklich.
Ich war bis dahin ein bis zwei Mal, es war ein heißer Sommer, in dem Bad gewesen und tatsächlich geschwommen. Ich kann mich nicht einmal erinnern, dass das Wasser brackig, abgestanden, faulig gewesen wäre. Jedenfalls habe ich es eiskalt und frisch in Erinnerung, von jener wellenbekräuselten durchsichtigen Bläue, von der ich später träumte, wenn ich mich in die Kindheit zurückträumte.
An diesem Nachmittag ging ich wieder ins Bad, in dem ich bisher ganz allein gewesen war. Sonst kein Mensch. Und die Tür an der Kasse war natürlich offen gewesen und die Kasse unbesetzt. Diesmal hörte ich schon von weitem Lärm. Ich schlich mich vorsichtig heran, wie ich mir das schnell angewöhnt hatte, um nicht in Gefahr zu geraten, gar in Todesgefahr.
Da sah ich russische Soldaten, die einen Militärlastwagen geparkt hatten, ihre Uniformen auszogen und in langen Unterhosen fröhlich lärmend ins Wasser sprangen. Ich sehe noch ihre kahl rasierten Köpfe, die am Körper klebende Unterwäsche, die bleichen Oberkörper. Einige von ihnen konnten nicht schwimmen und paddelten wie die Hunde, andere halfen lachend denen, die unterzugehen drohten. Ich sah das wie einen Film, hinterm Busch verborgen, aus gebührendem Abstand und wartete. Als sie schließlich wieder wegfuhren, bin ich ins Bad gegangen. Da schwammen im Becken die herausgerissenen Türen der Kabinen, das Sprungbrett war abgebrochen, das Bad verwüstet, das Becken durch Fäkalien verunreinigt.
Mein Vater hat seinen Dienst als Bademeister nicht angetreten. Er wurde Knecht bei einem Bauern, keine fünfzig Meter von unserer Wohnung entfernt. Das Schwimmbad verkam schnell und wurde nie wieder benutzt. Nun konnte man in Leutmannsdorf auch nicht mehr baden gehen. Den Gemeinderat, der so getan hatte, als könnte man schon wieder ein bisschen Frieden und Normalität spielen, gab es auch bald nicht mehr.
Eines Morgens jedoch waren überall Verlautbarungen angeschlagen, die in deutscher und polnischer Sprache ankündigten, dass das urpolnische Gebiet der Wojewodschaft Wroclaw nun nach Kriegsende und dem Sieg über den Faschismus zu Polen zurückkehre. Die Menschen nahmen das zur Kenntnis und waren spürbar beunruhigt. Es war die Ungewissheit, die sie quälte. Sie wussten nicht, wie das, was kommen sollte, aussehen und was es für Folgen für die betroffenen Schlesier zeitigen würde. Würden sie Polen werden? Würden sie ihren Besitz, also im Dorf vor allem ihre Bauernhöfe, ihren Grund und Boden, ihre Häuser an Polen verlieren? Aber es gab ja keine Polen in
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