Auf der Flucht
zum ersten Mal überlegt, warum er so panisch auf die Frage reagiert hatte. Was hatte er in Russland erlebt, das so schrecklich war, dass er lieber ableugnete, überhaupt dort gewesen zu sein?
Uns ist jedenfalls an diesem Tag nichts passiert. Die Russen zogen weiter, den Kühen hinterher, und vergaßen sich auch dafür zu rächen, dass ihnen das Mädchen, das sie doch durch Zeichen und Gesten angelockt hatte, entgangen war.
»Das Bildnis des Dorian Gray«
In der Nähe des Bades entdeckte ich eine einstöckige Villa. Das Haus sah verlassen aus, zerbrochene Fenster, es war totenstill im verwilderten Garten, in dem Gartengeräte herumlagen. Ich stieg durch den Keller in das Haus, das verwüstet war, die Türen aus den Angeln gerissen, die Holzdielen aufgebrochen. Alles war geplündert worden, es gab nichts mehr außer ein paar kaputten Gerätschaften, Besen, eine verbogene Gabel, eine rostige Metallkanne. Und Bücher. Viele Bücher, die verstreut auf dem Boden herumlagen, teils zerfleddert, teils zerrissen, teils vom Regen aufgeweicht, der durch die zerschlagenen Fenster hereingedrungen war. Es war unheimlich still, nur die Dielen und Treppen knarzten, wenn man sie betrat, in dem leeren Haus klang selbst das Knarzen seltsam hohl und hallend. Und das Gespenstische war: Ich konnte aus der Unordnung zerborstener Möbelreste und zerstreuter Bücher nicht mehr darauf schließen, wer hier wohl gewohnt haben mochte. War der Besitzer geflohen, tot oder erschlagen? War er vielleicht ein, zwei Monate fort? Schon fühlte ich mich als Eindringling in der Lage eines Forschers, der aus den Trümmern und Brandflecken – an manchen Stellen war das Haus, waren seine Wände angekohlt, und helle Vierecke verrieten noch, wo Bilder gehangen hatten – Schlüsse zu ziehen versucht.
Plötzlich drangen in die Stille Stimmen, Männer, die eine fremde Sprache sprachen und offenbar das Haus betreten hatten. Panisch suchte ich nach einer Fluchtmöglichkeit, einem Schlupfwinkel. Ich entdeckte eine aufgerissene Stelle im Dielenboden, unter die ich kroch, in die ich mich verkroch, wobei ich kaum zu atmen wagte. Es ist vorbei mit mir, dachte ich, vorbei, wenn sie dich entdecken. Ich konnte hören, wie sie das Haus abschritten, sich unterhielten. Verstehen konnte ich die Männer ja nicht. Und auch nicht sehen, vielleicht habe ich sogar in meiner Angst die Augen zugemacht. Dann gingen sie wieder hinunter, dann wurden ihre Stimmen leiser, dann verließen sie das Haus und dann hörte ich, wie ein Auto gestartet wurde und abfuhr, ein Auto, das ich nicht hatte kommen hören.
Ich wartete, bis es wieder ganz still geworden war, und verließ fluchtartig das Haus. Aber ich habe dennoch drei heil gebliebene Bücher mitgenommen, wahrscheinlich hatte ich sie schon in der Hand, als ich in mein Versteck gekrochen war, aber in Wahrheit erinnere ich mich nicht daran, offenbar hat der Schrecken diesen Teil der Erinnerung gelöscht.
Zu Hause angekommen, habe ich die Bücher durchgeblättert. Zwei erwiesen sich als ungeeignet, es waren irgendwelche Fachbücher, aber eines habe ich mit staunendem Befremden und wachsendem Interesse gelesen. Es war das Buch von einem Autor, dessen Namen ich noch nie gehört hatte, eine Übersetzung von Oscar Wildes »Das Bildnis des Dorian Gray«.
Oscar Wildes Roman war für mich vollkommen fremd und doch vertraut wie ein schöner Traum, der böse endet. »Gray«, den Namen kannte ich, denn in Bielitz hatte ich bei meinen Nachbarn in den Westernromanen von Max Brand und Zane Gray geschmökert, die da, als Serienprodukte, eine ganze Regalreihe füllten. Aber das hier, die Geschichte des schönen, hoffnungsvollen jungen Mannes, der dem Laster verfällt und die Hässlichkeit seiner Seele nur im Spiegel eines Gemäldes erblickt, während er selbst strahlend jung und unwiderstehlich schön bleibt, bis er wütend auf das hässliche Spiegelbild seiner Seele einsticht, um dann entseelt neben das Bild zu fallen, das jetzt seine jugendliche Schönheit und Unschuld festhält, während der Tote hässlich und alt daneben liegt, diese Geschichte war etwas völlig anderes als alles, was ich bisher gelesen hatte, vielleicht abgesehen von den Märchen Hans Christian Andersens, die mich in eine ähnlich fremd glitzernde, von einem schweren Parfüm und einer seltsamen Melancholie und Verdorbenheit durchschwängerte Welt entführten.
Das ist nicht wahr, dachte ich über die Geschichte Dorian Grays, das ist ausgedacht wie ein Traum, aber dann
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