Auf der Flucht
Leutmannsdorf. Von der Aussiedlung, die geplant war, von der Vertreibung der Deutschen aus Schlesien, Pommern, Danzig und Ostpreußen war noch nicht die Rede, auch nicht als Gerücht.
Erst Monate später begannen die Kompensations- und Tauschgeschäfte, bei denen die Amerikaner Thüringen und Teile von Sachsen-Anhalt und Sachsen räumten, um ihrerseits mit drei Sektoren in Berlin und Wien bedacht zu werden. Die Errichtung der Nachkriegsordnung war noch in der Planungsphase, aber wo Stalin die Faust drauf hatte und durch die Präsenz der Roten Armee das Sagen, da versuchte er, meist erfolgreich, vollendete Tatsachen zu schaffen. Und die Bekanntgabe der Errichtung der polnischen Wojewodschaft Wroclaw war so eine vollendete Tatsache.
Wer 1945 in den Herrschaftsbereich der Sowjetunion geraten war, merkte, auch wenn er noch ein Kind war, was das in Wahrheit bedeutete, und ich habe diese Wahrheit, das heißt die Realität des Sozialismus, in George Orwells »1984« später genau wieder gefunden: den Terror von Gehirnwäsche und totaler Kontrolle, die Angst vor der Rechtlosigkeit, die Phrase als Totschlagmittel, die Verkehrung der Lüge zur Wahrheit. Nie hat ein Buch eine von mir selbst erfahrene Wirklichkeit so präzise beschrieben, und meine Verzweiflung, dass das die wenigsten so sehen wollten, vielmehr als fellow travellers und »nützliche Idioten« Stalins Sowjetunion in die Hände arbeiteten, diese Verzweiflung hat mich, solange ich im Einflussbereich des Stalinismus und Nachstalinismus lebte, nie verlassen.
Zunächst aber geschah nach der Deklaration, dass Schlesien an Polen fallen sollte, gar nichts. Wir waren in Polen, aber wir merkten wochenlang nichts davon. Nichts änderte sich, so gut wie nichts. Einmal erfolgte, wie ein wilder Fieberstoß, eine seltsame Aktion. Vom Oberdorf über das Mitteldorf trieben russische Soldaten Rindvieh durch den Ort und auf und davon. Nachdem sie es zuerst aus den Ställen gezerrt hatten, brüllend und die Gärten niedertrampelnd, verließ die Herde, von Soldaten angetrieben, den Ort.
Da geht unsere Nahrung, da geht unsere Existenz, sagten die verstörten Menschen, die sich in die Häuser flüchteten, ja versteckten, aus Furcht, dass vielleicht auch sie weggetrieben werden sollten. Aber nichts dergleichen geschah. Und was mir in der Rückschau merkwürdig erscheint, ist die Tatsache, dass die Bauern nach dieser brutalen Beraubung noch Vieh im Stall hatten. War die Aktion abgebrochen worden, gar rückgängig gemacht? Hatte man nur einen Teil des Viehs geraubt? Ich weiß es nicht.
Als die Kühe und Ochsen durch den Ort getrieben wurden, die Hauptstraße entlang, verirrten und verliefen sich auch ein paar Tiere in die Nebenstraße, in der die Fleischerei lag, und preschten durch den Obstgarten, russische Soldaten hinterher. In dem Haus wohnte auch ein Postlerehepaar, ältere Leute mit einer Tochter, die die anderen Hausbewohner damals etwas despektierlich als eine alte Jungfer bezeichneten, obwohl sie gewiss nicht alt war, sie wirkte nur durch ihre dicken Brillengläser und dünnen Haare, durch ihre schmalen Lippen und ihre verdrossene Miene gedrückt, wie in ihre dünne Figur gepresst. Die soll nun, als sie der Kühe und Russen ansichtig wurde, den Soldaten aus dem Fenster zugewinkt oder sich auch nur gezeigt haben – in der späteren Deutung des Vorfalls, weil sie »es nötig hatte«, »einen Mann brauchte«, »endlich«. Die Russen jedenfalls, ihrer ansichtig, stürmten ins Haus. Das Mädchen, vom Mut verlassen oder von Angst ergriffen oder von ihren Eltern in Gewahrsam genommen, wurde rasch durch einen Hintereingang aus dem Haus geschafft und die angelockten und düpierten Russen tobten durch das Haus und waren in ihrer Enttäuschung kaum zu beruhigen.
Schließlich setzten sich zwei, drei von ihnen schwer schnaufend in unsere Wohnung, fixierten meinen Vater und fragten ihn in der Zwei-Worte-Sprache, in der man sich damals verständigte: »Du – Krieg?« Mein Vater verstand, dass sie wissen wollten, ob er als Soldat in Russland gewesen sei. Er krümmte sich und hütete sich, beim Russlandfeldzug erlernte russische Vokabeln in seine Antwort fließen zu lassen. »Nein«, sagte er und schüttelte bekümmert und zugleich energisch den Kopf. Er drückte auf seinen Bauch und krümmte sich noch stärker. »Krank!« Er drückte auf seinen Bauch. »Kaputt.« Und ächzend: »Nix Soldat! Krank!« Damals kam er mir zwar feige, aber schlau und listig vor.
Kurz darauf habe ich dann
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