Auf der Flucht
spürte ich, dass mich die Geschichte festhielt, dass in der Unwahrheit ihre eigene Wahrheit steckte. Ich hatte zum ersten Mal die einzige zweite Welt in der wirklichen betreten: die Welt der Phantasie, die Welt der Kunst, die Welt der Literatur.
Natürlich war es auch so, dass das Buch mich beeindruckte, weil ich es sozusagen unter Todesgefahr erworben hatte. Und natürlich entführte mich das Buch in eine Welt, die meiner momentanen nicht fremder hätte sein können: Es war die Welt der englischen Salons, eine so raffinierte Welt wie die des Fin de Siecle. Es gab Theater, Tee in hauchzarten Tassen und vor seidenen Tapeten und teuren Nippes, es gab schön gekleidete Mädchen und Frauen, die elegante Hüte und zarte Handschuhe trugen. Besucher brachten Blumensträuße mit, man aß Konfekt, Schnittchen. Aber eigentlich war es auch das nicht, was mich, der ich diesen hoch raffinierten, großstädtischen Roman in meiner primitiv bäuerlichen Welt las, so faszinierte. Ich war ein Kind, das in eine komplizierte Erwachsenenwelt geraten war, an Geschichten von raffinierten Menschen, die ihre Kämpfe um Seelenregungen und Gefühlswallungen austragen. Kurz, in eine Seelenlandschaft, in eine Welt, in der Träume wahr sind. Eine Welt, die ich später immer wieder voll Angst und Hoffnung betreten sollte. Vor allem aus einem sehr egoistischen Motiv, dem Bedürfnis nach Solidarität: Ich wusste, ich bin nicht allein mit meinen Schwächen, Geheimnissen, bösen und guten Gedanken, bin aufgenommen in eine Gemeinschaft der Einsamen: der Lesenden.
Aus Angst traute ich mich nie mehr in dieses verlassene Haus, und als ich, fast ein Jahr später – die Polen waren schon da –, wieder dorthin kam, da saß der junge polnische Pfarrer wie eine Vogelscheuche in einem der Kirschbäume und winkte mir mit einer Hand wild fuchtelnd zu, während er sich mit der anderen festhielt. Seine schwarze Soutane flatterte. Er lud mich zum Kirschenklauen ein und ich folgte ihm. Er war wohl ziemlich betrunken.
In der folgenden Zeit habe ich mich bei einer älteren Häuslerin mit Büchern versorgt. Ich hatte von ihr gehört, dass sie zahllose Romanheftchen hatte, die sie auslieh. Es waren einfach geschriebene Liebesromane, siebzig, achtzig Seiten dick, sie haben mir gefallen, aber meine Träume haben sie nicht einmal gestreift.
Manche davon waren »humorig«, was ich eigentlich nicht leiden konnte, denn der Liebe angemessen war das nicht.
Autark
Ich weiß nicht, ob ich damals schon je das Wort »autark« gehört hatte (es war ein Lieblingswort im Wortschatz der Nazis), aber ich weiß, dass mich damals eine Sehnsucht nach einer kleinen Welt, in der jeder, der in ihr lebt, alles findet, alles erschafft, selbst erschafft, was er braucht und was ihn zufrieden macht, erfüllte. Jedenfalls habe ich mir in Leutmannsdorf die Notwendigkeiten und Vorteile eines abgekapselten Eilands ausgemalt, das sich selbst genug ist. Und »sich selbst genug« bedeutete für mich in den Monaten nach dem Mai 1945 vor allem: von außen abgeschnitten und zur Selbstversorgung gezwungen.
Ich zeichnete und malte mir auf Papieren und in Heften meine Welt, einen kleinen Staat, der sich selbst versorgt. Der eine Hauptstadt hat und einen Hafen. Der eine Mühle hat, Getreidefelder, Obstgärten, Geschäfte, in denen es »alles« gibt, soweit ich weiß, sogar Süßigkeiten. Ob es Schokolade geben sollte, weiß ich nicht mehr, weil ich auch nicht mehr weiß, ob ich damals nicht schon vergessen hatte, dass Schokolade überhaupt existiert. Sie ist mir, in dem Jahr in Leutmannsdorf, nicht einmal als Mangel in Erinnerung.
Und wie sich meine kindliche Phantasie in Form eines Staatsentwurfs ein winziges Reich entwarf, in dem alles vorhanden war und das durch Warentausch florierte – man tauschte Getreide gegen Fleisch –, so war ich wohl auch, was meine Beziehungen anlangte, »autark«. Oder sogar ein wenig »autistisch«? Auch dieses Wort kannte ich natürlich nicht.
Denke ich an meine Mutter, so sehe ich sie vorwiegend mit meinen vier kleineren Geschwistern beschäftigt; denke ich an meine Geschwister, dann sehe ich sie allesamt zu klein für mich, Fremde. Ich sehe mich schon mal in dem schönen grünen Vorgarten sitzen (er war erhöht gegen die Straße und durch eine weiße Steinmauer abgegrenzt), neben der Wiege meines kleinsten Bruders, der, kein Jahr alt, da in weißen Tüchern und Kissen liegt, im Schatten eines breiten Baumes, wahrscheinlich einer Linde. Aber wie oft habe ich
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