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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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bekam.
    Über ein Jahr lang lebte ich in einem scheinbar isolierten Mikrokosmos – einem deutschen Kleinstaat von der Größe eines Dorfs mit spärlichen Außenbeziehungen und sporadischen, nie einzuschätzenden Übergriffen einer fremden, übermächtigen, rätselhaften Außenwelt, deren Sprache wir nicht einmal verstanden.
    Über ein Jahr lang gab es keine Polizei und kein Geld, keine Banken, keine Postämter, keine Fahrräder, keinen Arzt, keine Handwerker, kein Kino, kein Restaurant, kein Café, keine Bibliothek oder Buchhandlung, kein Theater, keine Musik – ja wirklich keine Musik, weder aus dem Radio noch von der Tanzdiele, nicht aus dem Konzertsaal und nicht in der Kneipe. Im Haus des Fleischers stand ein Klavier, das ich einmal gehört habe, mit einem kurzen dröhnenden Misston. Das war ein gutes halbes Jahr nach unserer Ankunft, die Polen waren schon da.
    Unser Haus unterstand einem polnischen Oberfleischer, der über den deutschen Fleischer gesetzt worden war, ein hübscher, romantisch aussehender Mann mit melancholischem Blick, einem schönen schwarzen Schnurrbart, dichten schwarzen Locken, glühenden Augen und apfelroten Wangen, der eine entzückende zarte junge Frau hatte; beide schienen sie seltsam fragil und zu zierlich für das grobe Fleischerhandwerk. Dieser junge Mann hatte aber die Angewohnheit, sich von Zeit zu Zeit bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken, dann rannte er, Flüche wie »pschakrew« (Hundeblut) oder »kurva matj« (Hurenmutter) ausstoßend, eifersüchtig hinter seiner Frau her (eifersüchtig worauf? Ich konnte es nicht einmal ahnen), die vor ihm flüchtete, sich vor ihm einschloss oder bei den deutschen Mitbewohnern Schutz suchte, was uns in Bedrängnis brachte, denn seine volltrunkene Wut hätte sich ja auch an uns austoben können, ohne dass wir Mittel und Rechte gehabt hätten, uns zur Wehr zu setzen. Er tat uns aber nichts, seine Wut war ganz auf seine schöne junge Frau konzentriert. Nur einmal eben, als er sie mit der Axt in der Hand verfolgt hatte und sie ihm entwischt war, schlug er auf die Tasten des Klaviers ein, das vor Schreck ein dissonantes Summen von sich gab.
     
    In den ersten Tagen nach unserer Ankunft in Leutmannsdorf, keine vierzehn Tage nach der bedingungslosen Kapitulation, hatten einige Männer und Frauen versucht, eine Dorfverwaltung aufzubauen, unbescholtene Menschen, die im Nazireich in stummer Opposition beiseite gestanden hatten und sich jetzt erinnerten, dass sie einmal Sozialdemokraten oder Kommunisten, Zentrums-Wähler oder Liberale gewesen waren – so denke und rekonstruierte ich mir das wenigstens. Ob sie dazu den Segen der Kom mandantur in Schweidnitz hatten oder sogar deren Wie sung befolgten, weiß ich nicht. Da ich aber weiß, dass Deut sche so gut wie nichts ohne Weisung tun, nehme ich das an.
    Mein Vater meldete sich bei dieser Behörde ordentlich an, hier hat er, glaube ich, zum ersten Mal seinen Lebenslauf verändert und gereinigt, einige Stationen ausgelöscht: Bielitz kam in dieser Biographie nicht mehr vor, meine Schwester Ingrid und meine Schwester Heidrun waren auf einmal in Wien geboren, und ich, der ich Wien nach einem eher kurzen Aufenthalt mit fünf Jahren verlassen hatte, musste jetzt so tun, als hätte ich bis zum elften Jahr ununterbrochen in Wien gelebt. Ich durfte, so dachte und spürte ich, wenn ich nach Wien gefragt wurde, nur flache, verschwommene, ungenaue Schilderungen geben, so als hätte meine Erinnerung in den Wiener Jahren versagt, und so flunkerte ich also Falsches dazu: Es war ein Wien eher der Operetten oder auch nur der Operettenmelodien, das ich auf Verlangen reproduzierte. Ich weiß nicht, wie meine Schwestern damit fertig geworden sind, dass ihnen jahrelang ihr Geburtsort und ihre frühe Kindheit weggenommen und ein anderer Ort, mit dem sie keine konkrete Lebenserfahrung verband, untergeschoben worden war. Ich jedenfalls reagiere bis heute mit Unbehagen, wenn mich jemand fragt, wo ich denn eigentlich herkomme, und meist hoffe ich, der Beantwortung entkommen zu können, wenn ich sage: »Das ist eine lange Geschichte.« Und dann schweige.
    Ich glaube, viele Deutsche meiner Generation und der Generation meiner Eltern haben ihr Leben nachträglich korrigiert, verbessert, umgeschminkt, anders drapiert und arrangiert. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Tatsache, dass ein neues Leben über das verschwiegene, verdrängte, weggelogene gelegt wird, sich nicht im allgemeinen Bewusstsein niedergeschlagen

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