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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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diese Idylle in dem einen Jahr wohl erlebt? Einen Tag? Zwei Tage? Oder drei?
     

Schlüpfrige Lieder
     
    Ich erinnere mich an nicht einen Freund aus diesem Jahr. Aber ich erinnere mich, dass ich auf dem Hof, auf dem mein Vater Knecht war, dem Jungknecht Hans und der Magd, deren Namen ich nicht mehr weiß, zu deren Gaudi schlüpfrige Lieder vorgesungen habe, wobei ich mich stolz produzierte. Und dass ich nichts von dem kapiert habe, was ich da sang:
     
    Eine Nummer wurde gemacht
    Dann hab ich sie nach Haus gebracht
    Den Mund zum Küssen bereit
    Eine Hand unterm Kleid
    Caramba
     
    Ich weiß auch nicht mehr, woher ich solche Lieder hatte. Ich konnte sie jedenfalls stundenlang vorsingen und die Magd und der Knecht freuten sich. Meinem Vater war das, wenn er dazukam, unangenehm. Wirklich? Schämte er sich wirklich? Ich weiß es nicht mehr. Vom Knecht und der Magd weiß ich, dass der Knecht Hans »verrückt nach ihr« war, weil sie ihn »wild« gemacht hatte. Das habe ich gehört, als mein Vater es wahrscheinlich meiner Mutter erzählte. »Wild gemacht« deshalb, weil sie, die weizenblonde Zöpfe hatte und struppiges Haar, unter ihrem Rock »nichts anhatte«, keine Unterhose, keinen Schlüpfer, nichts. Und das habe Hans gesehen, sehen müssen, wenn sie Heu abluden und sie hoch in der Scheune stand, wenn er ihr das Heu mit der Gabel vom Leiterwagen hoch schaufelte, damit sie es weiter in der Scheune stapelte. Dabei sei er verrückt geworden. Nach ihr.
    Auch ich habe ihr unter den Rock gesehen. Ich wollte wissen, ob sie dort unten auch weißblond ist. Und war erschrocken, wie dunkel sie dort war. Ich weiß noch, dass sie ein rotes Gesicht hatte, das sie alt machte. Und dass sie später, wie es verächtlich hieß, mit den Polen »fraternisierte«. Und Hans noch unglücklicher wurde.
    Mit wem habe ich gespielt? Mit den beiden Mädchen, den Töchtern von Frau Martin, die neben dem Bauernhaus in einem kleinen Haus wohnte. Sie war eine Verwandte des Bauern und ihr Mann war bei der Waffen-SS gewesen und tot oder vermisst. Auch sie arbeitete auf dem Hof, eine hübsche, ja eine schöne dunkle Frau. Ich habe mit den Mädchen im Vorgarten gespielt und getollt und gerauft und wir haben uns ausgezogen, als es heiß war, und mit Wasser bespritzt. Mein Vater hat uns gesehen und mir gesagt, dass das so nicht gehe, so könne ich mit den Mädchen nicht spielen, dazu sei ich zu groß. Mein Vater hatte ein Verhältnis mit Frau Martin, wahrscheinlich auch, weil er mit ihr über seine Zeit vor 1945 offen reden konnte, weil ihr Mann ja bei der Waffen-SS gewesen war. Vor ihr konnte er sich großtun, wo er sich doch sonst klein machen, bücken und ducken musste.
     

Die Polen kommen
     
    Eines Tages waren die Polen da. Monate waren vergangen seit der Ankündigung, dass mit Schlesien »urpolnisches Gebiet« zu Polen zurückkehre. Jetzt waren sie da, die neuen Besitzer, um die alten Eigentümer abzulösen und zu vertreiben. Erlebt habe ich das als Kind, in einem Mikrokosmos lebend, aus einer verqueren, aber wenig abstrakten Perspektive. »Als Kind« heißt auch, dass ich die Erwachsenen ständig darüber reden hörte, sie waren die Nachrichtenquellen, die ich zu verarbeiten hatte.
    Aus dem Rückblick ergibt sich für mich das folgende Bild: Als die Polen kamen, wurden in Leutmannsdorf alle Rollen doppelt besetzt. Die Polen fungierten fortan als Herren und Eigentümer, die Deutschen spielten nach wie vor ihre alten Rollen als Bauer, Bäuerin, Knecht und Magd, Fleischer und Fleischersgattin, denn nur sie verfügten über die Erfahrung und das Wissen, die waren traditionell seit Jahrhunderten weitergegeben worden, vom Großvater auf den Vater, vom Vater auf den Sohn. Sie wussten mit jeder Faser ihres Lebens, was hier gespielt wurde, sie waren in ihren Aufgaben zu Hause wie Fische im Wasser, wie Vögel in der Luft, ihre Sprache, ihr Dialekt drückten ihr Dasein aus. Die neuen polnischen Herren kamen aus anderen Zusammenhängen, anderen Verhältnissen, also merkten sie schnell, dass sie zunächst einmal froh sein konnten, wenn in ihrem Namen und an ihrer Stelle das Alte weiterlief. Auch sie waren ja nicht freiwillig gekommen, sondern vertrieben worden.
    Wir, meine Eltern, meine Familie, gehörten nicht zum alten Spiel. Wir versuchten es erst mühsam zu erlernen. Ich merkte das schon daran, wie mein Vater mit Befremden, leisem Spott und großem Unverständnis auf die Sprache reagierte, die hier galt. »Kascha«, sagte er eines Tages, »Kascha, das

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