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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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soll Kirschen heißen.« »Kascha! Dabei heißt das doch Brei.« Dabei war »Kascha« für »Brei« ein slawisches Wort, das er aus seiner Kindheit kannte, oder aus dem Russlandkrieg. Und »Kascha« für »Kirschen« war nur eine andere Aussprache des gleichen deutschen Worts, was mein Vater aber so nicht wissen wollte. Wir, das heißt wieder meine Familie, waren schon vertrieben worden aus unserer Sprache. Das stand den Schlesiern noch bevor.
    Wäre mein Vater nicht Deutscher gewesen und hätte er sich nicht als Deutscher gefühlt, mit dem schier glühenden, aber unterdrückten Patriotismus des Kriegsverlierers, er hätte sich achselzuckend sagen können, ihm sei es egal, ob er zum Knecht unter Polen oder unter Schlesiern herabgestuft werde, ja selbst sprachlich sei es für ihn nicht so entscheidend wie für die enteigneten Eigentümer.
    Vielleicht ist das der Grund, warum ich den Wechsel als so friedlich, ja harmonisch in Erinnerung habe. Jedenfalls entstand zwischen Polen und Deutschen auf engstem Raum aus gemeinsamem Interesse eine Art Symbiose, die eigentlich frei von Furcht und Schrecken war (wenn auch nicht frei von Willkür). Die Deutschen arbeiteten und die Polen ließen sie; teilweise versuchten sie mitzuarbeiten. Aber es galt: Wo früher einer satt geworden war, hatten jetzt zwei satt zu werden.
    Für einige Monate ging das in dieser landwirtschaftlich reichen Gegend mühelos: Noch lebte man ja in einer Tauschgesellschaft, in die der Staat (die russische Besatzungsmacht) gelegentliche Raubzüge unternahm, die aber sonst in sich ruhte.
    Man lebte von der Hand in den Mund und das, wie ich später schmerzlich erfahren sollte, gar nicht schlecht.
    Allerdings hatten nur die einen die Waffen und das Sagen. Und das waren die Polen, die neuen Herren. Der Hof war von dem »Kommandanten« des Orts übernommen worden, einem hageren zurückhaltenden Mann, dessen Frau gutmütig, dick, freundlich gluckenhaft war.
    Eines Tages, bei einer fröhlichen Feier auf der Tenne, einem gründlichen Besäufnis, hatte dieser Kommandant vor Freude und Alkoholgenuss mit seiner Pistole in den Boden geschossen und der Großmutter war ein Querschläger in den Bauch gefahren und hatte sie getötet. Darauf musste mein Vater mit dem Kommandanten und einem Schwein in die Kreisstadt fahren, um das Gericht zu bestechen.
    Aber hatten die Polen neben den Waffen auch das Sagen? Wohl nicht, weil die Russen größere und mehr Waffen hatten. Und weil die Russen die Polen nicht leiden konnten, eher schon die Deutschen. Es kursierten unzählige Geschichten darüber, wie man sich bei Übergriffen der Polen, die dabei meist stark betrunken waren, zur russischen Kommandatur durchgeschlagen habe und dann die Russen gekommen seien und die Polen verprügelt hätten. Die Polen wiederum konnten die Juden nicht leiden, wurde erzählt, und so habe ich gehört (oder hat es mir mein Vater erzählt?), dass ein Pole sagte, das einzig Gute, was Hitler gemacht habe, sei, dass er die Juden »ausgeschaltet«, Polen von den Juden »befreit« habe. Befreit? Ausgeschaltet? Vertrieben? Ermordet? Merkwürdig war das schon, dass hier, im Zitieren eines polnischen Kompliments, der Völkermord für einen Augenblick zur Sprache kam. Wie bei der Traumarbeit suchte er dabei einen Umweg. Noch merkwürdiger, dass es das einzige Mal war, dass der Völkermord überhaupt auftauchte.
     
    Dann kam der Tag der Aussiedlung. Datum und Sammelstelle waren den Deutschen durch Anschläge von ihren polnischen Nachfolgern und Landnehmern mitgeteilt worden. Die Sammelstelle bei der nächstgelegenen Bahnstation war nach meiner Erinnerung rund zwanzig Kilometer von unserem Dorf entfernt. Es wurde auch mitgeteilt, wie viel Gepäck man mitnehmen und was man keineswegs mitnehmen durfte; ich glaube, die Grundbucheintragungen gehörten dazu, die Enteignung war vollkommen. Natürlich durften keine Tiere mitgenommen werden, niemand konnte mit Pferd und Kutsche, Ochs und Karren seine Heimat verlassen. Auch mit dem Traktor und Anhängern hätte sich keiner nach Westen begeben dürfen.
    Dieser Ausweisung fehlte die Panik der Flucht, aber es gab auch keine Möglichkeit, die wichtigsten Sachen mit verzweifelt klammerndem Griff wegzuschleppen. Und unsere Situation war sowieso eine andere; wir hatten die Trennung, die den anderen bevorstand, schon vollzogen. Mein Vater hatte uns geschildert (und in meinem Kopf steht das Bild, das ich nie wirklich gesehen habe, fest wie eine scharf gestochene Fotografie), wie er

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