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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Österreich und alle Länder, in denen nach 1918 die Geschwister meiner Eltern verstreut lebten: Rumänien, Tschechoslowakei, Polen, Deutschland, Österreich. Als ich meine eingetauschten bunten Nazi-Marken später genauer inspizierte, sah ich, dass die meisten schmutzig und lädiert waren, mit abgerissenen Zacken und mit Wasserflecken. Mein erster und einziger Versuch, mit Nazidevotionalien zu spekulieren, schlug fehl. Ich habe eigentlich nie wieder etwas gesammelt.
    Unsere Bauern verloren wir schon, als wir noch auf den Güterzug warteten, aus den Augen. Frau Strempel bei der Ankunft in Sachsen. Sie ging schnurstracks in den Westen, nach Niedersachsen, wo sie später ihren Mann wiederfand, nachdem er aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Davon haben wir nur gehört oder in Briefen gelesen. Meine Eltern haben es bei Flüchtlingstreffen aufgeschnappt. Sie selbst haben wir nie wieder gesprochen oder gesehen.

Eine Jugend unter Stalin
An der Pforte zu Big Brother
     
     
     
     
     
     
     
    »Ich lebe überall ein bisschen ungern«
    Alfred Polgar

Stollberg im Erzgebirge
     
    W
    ir waren die kinderreichste Familie, die in dem Gasthaus in Stollberg im Erzgebirge abgesetzt worden war. Nach tagelanger Fahrt aus Schlesien mit unzähligen Aufenthalten auf Nebengeleisen und Rangierbahnhöfen waren wir endlich hier in Sachsen angekommen. Stollberg im Erzgebirge hatte rund 10000 Einwohner, war eine Amtsstadt der Amtshauptmannschaft Stollberg (so der Brockhaus von 1934), gehörte zur Kreishauptmannschaft Chemnitz und besaß eine Strafanstalt in Schloss Hoheneck, ein Amtsgericht, ein Finanz-, ein Forst-, ein Bergamt, ein Bezirkskrankenhaus, ein Bezirksaltersheim, eine Deutsche Oberschule sowie Strumpf-, Eisen- und Holzindustrie. Das Gebiet um Stollberg ist das Obererzgebirge.
    In »Meyers Neuem Lexikon«, 1976 herausgegeben vom VEB Bibliographisches Institut Leipzig (Band 13) ist es eine »Kreisstadt im Bezirk Karl-Marx-Stadt«, hat 12 568 Einwohner und »Maschinenbau, Fahrzeugausrüstung und elektrotechnische Industrie«. Der Marktplatz, in einem Farbdruck abgebildet, mit schönen Blumenbeeten und einer hohen mehrarmigen Bogenlampe vor falschen historischen Gebäuden, die, durch eine Straße abgegrenzt, von gebückten alten Häusern kontrastriert werden, sieht nicht so aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Hier fuhr 1947 auf einem gespannten Seil ein Motorradfahrer hoch zum Kirchturm, inmitten einer gebannten Menge, in der auch ich stand. Ich glaube, allein.
    Zunächst aber lagen wir, oder besser: lagerten wir mit anderen Ausgesiedelten in einem Gasthof am Boden. An den Namen des Gasthofs kann ich mich nicht erinnern, aber daran, wie folkloristisch er aufgeputzt war.
    »Vergiß die Haamit nit«, stand als Spruch an einer Wand. Und an einer anderen: »Es grüne die Tanne, es wachse das Erz / Gott schenke uns allen ein fröhliches Herz.« Und noch an einer weiteren Wand das Erzgebirgslied:
     
    De Sunn steicht hinnern Wold
    drim nei,
    besaamt de Wolkn rut,
    a jeder lecht sei Warkzeich hie
    un schwenkt zen Gruß san Hut.
    S'is Feieromd.
    s'is Feieromd, es Tochwarch is
    vullbracht
    s'gieht alles seiner Haamit zu
    ganz sachte schleicht de Nacht.
     
    Hier war, so viel stand fest, Deutschland. Aber hier waren wir, so viel stand leider auch fest, nicht sehr willkommen. Während die anderen dreißig Menschen, alles kleinere Familien, nach und nach ihr Nacht- und Taglager auf dem Fußboden und zwischen den Tischen und Stühlen der Kneipen räumten, weil sie auf neue Heimstätten verteilt, von Erzgebirglern aufgenommen wurden, blieben wir übrig. Wir waren zu viele und zudem zu viele kleine Kinder.
    Ich habe damals, wie schon vorher auf der Flucht, verstanden, dass nichts hinderlicher ist in schlechten und labilen Zeiten als eine große Familie. Lehren habe ich daraus so richtig nicht gezogen.
    Als wir nach Tagen, ja nach einer Woche immer noch zu siebt auf dem Fußboden der Kneipe unter der Mahnung »Vergiß die Haamit nicht!« kampierten, beratschlagten Stadtverantwortliche, was mit uns zu geschehen habe. »So kann es doch nicht weitergehen«, befand ein reizender älterer Herr, der CDU-Stadtrat oder Kreisrat war und Hotelbesitzer, und nahm uns mit in sein Hotel, wo er uns auf zwei karge Zimmer verteilte. Das Hotel hatte einen Festsaal mit flacher Bühne und als wir, auf dem Weg zu unseren Zimmern, am Rand dieses Saals entlanggeführt wurden, sah ich, dass auf der Bühne – es war Vormittag – geprobt wurde. Im

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