Auf der Flucht
unsere Wohnung vorgefunden hatte im März 1945, als er sie zum letzten Mal besucht hatte: Sie war verwaist, die Heizkörper und Rohre der Etagenheizung waren in der eisigen Januar- und Februarkälte zerborsten, der »schöne Parkettfußboden« stand unter Wasser und auch von den Wänden liefen rostige Spuren der Wasserschäden herunter – dazwischen die Möbel, seltsam unberührt und unbeschädigt – so als hätten wir sie gerade für eine kurze Reise verlassen.
Hier in Leutmannsdorf erlebte ich eine merkwürdige Abschiedsstimmung. In all ihrer dumpfen Wehmut wirkten die Leute erleichtert, dass endlich geschah, was sie lange befürchtet hatten. Auch in den Gerüchten und Parolen war keine Hoffnung mehr geschürt worden, weder eine Hoffnung auf Churchill noch eine auf den Zerfall der Waffenbrüderschaft zwischen Stalin und dem Roosevelt-Nachfolger Harry S. Truman.
Zwischen Polen und Deutschen spielten sich tränenreiche Abschiedsszenen ab: Die einen weinten natürlich, weil sie gehen mussten und ihre polnischen Zwangserben nicht für die Schuldigen daran hielten, dass sie gehen mussten – damals kam alles »von oben«. Und »oben«, das war sehr weit weg. Das »Oben«, das musste man gar nicht artikulieren, das war durch nichts von unten zu beeinflussen und zu bewegen: Es gab keine Wahlen, keine Meinungsbefragungen, keine öffentliche Meinung, die sich auch nur halblaut artikuliert hätte; es gab keine Revolten, keine Aufstände. Es gab nur die Lethargie und Apathie der Besiegten. Es gab die Angst, die aus der Rechtlosigkeit erwächst. Für den Tod eines Deutschen hätte man nicht einmal ein Schwein zu einem polnischen Richter nach Schweidnitz karren müssen. Die anderen, die Polen, weinten – zynisch gesagt –, weil sie wussten, dass sie jetzt allein mit Haus und Hof, mit Vieh und Stall fertig werden mussten – ohne das ihnen zugeteilte Dienstpersonal und dessen herrschaftliche Sach- und Fachkunde. Sie weinten aber auch, weil sie Leuten etwas wegnahmen, wie ihnen etwas weggenommen worden war. So waren sie zwar ohne ihr Zutun reicher als vorher, aber dafür mit der Fremde gestraft.
Der Kommandant ließ es sich nicht nehmen, den Bauern, die Bäuerin, Frau Martin, ihre Kinder selbst mit der Kutsche zum Sammelplatz zu fahren. Die polnische Bäuerin (übrigens kinderlos) drängte den Abreisenden noch Einweckgläser mit Marmelade auf, Hühner- und Schweinefleisch – so als wäre sie die Eigentümerin (was sie ja war) und beschenkte großzügig arme Schlucker für eine weite Reise.
Mein Vater kutschierte einen anderen Wagen. Hans, der Knecht, kam mit und sollte ihn wieder zurückbringen. Auch die weizenblonde Magd mit dem strohigen Haar winkte uns zum Abschied mit vielen Tränen in den Augen zu. Sie stand neben dem jungen Bruder der polnischen Bäuerin, aber Hans hätte an diesem Tag ohnehin eine bittere Miene gemacht.
Auf dem Sammelplatz lagerten wir in Scheunen und Lagerhallen rund um den Bahnhof, in sommerlicher Glut, meine Familie in einer Baracke, in der es zweistöckige Betten gab. Es war heiß und die Baracke erfüllt von Kindergeschrei und dem Geruch von Baby-Durchfall. Auf einem Bett saß eine auffallend schöne junge Frau mit dunklem Haar und stillte ihr Baby. Ich sah ihr neugierig zu, obwohl ich Bilder vom Stillen gewohnt war. Ihre Brüste waren schneeweiß, von feinen blauen Adern gezeichnet. Sie lächelte mich, den Zwölfjährigen, freundlich an. Dabei sah ich ihre strahlend weißen Zähne. Und dann sah ich, dass diese Zähne Rillen, Gänge und Löcher hatten, wie sie Maden im reifen Obst, in Pflaumen und Birnen hinterlassen. Wenn ich an die Tage in Flüchtlingslagern denke, ist es das Bild, das ich am schärfsten vor Augen habe. Dabei weiß ich, dass es gar keine Würmer gibt, die sich durch Zähne fressen können.
Wir haben wohl einige Tage auf die Abreise gewartet. Auf einem Abfallhaufen habe ich viele, viele Briefmarken aus der Nazizeit gesehen: alle bunt, braun, rot und blau, alle mit dem Profil Hitlers von links, oder mit Hitlerjungen, oder Soldaten, oder auch nur mit großen Hakenkreuzen in Eichenkränzen. Ich traute mich nicht, sie aufzuheben. Und als ich mich am nächsten Tag trauen wollte, hatte sie längst ein anderer Junge eingesammelt. Er tauschte sie mir am nächsten Tag gegen die Sammlung ein, die ich von Frau Strempel mitgenommen hatte, Marken des Deutschen Kaiserreichs, der Kolonie Kamerun, des Königreichs Sachsen. In Bielitz hatte ich meine erste Sammlung liegen lassen:
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