Auf der Flucht
Textilfabriken gehört, ihr Mann war wahrscheinlich gefallen oder verschollen oder in den Westen geflohen oder in Gefangenschaft. Sie war vielleicht Mitte fünfzig und ich habe nie gehört, ob sie Kinder hatte, ob ihr Sohn etwa auch gefallen, geflohen oder in Gefangenschaft geraten war. Sie blickte mich mit ihren klaren grauen Augen wohlwollend an – so robust sie die Gemüsegärtnerin spielte aus Überlebensnotwendigkeit, so elegant wirkte sie und gab ihrer Haushälterin Anweisung, mir etwas zu essen zu geben: Ich gefiel ihr.
Während wir bei ihr ein feuchtes Kellerdasein führten, habe ich mir nun immer ihre Bücher ausleihen und lesen dürfen und manchmal hat sie sich sogar mit mir bei einer Tasse Tee darüber unterhalten. Im folgenden Juli durfte ich für sie die Kirschen pflücken, von den zwei, drei Kirschbäumen, die vor dem Haus standen; ich stieg mit der Leiter in die Äste und aß, gierig wie ich war, so viel Kirschen wie nur möglich. Und damit man das nicht merkte, schluckte ich die Kerne mit, wohl auch, weil die Kirschen so klein für meinen Hunger waren. Jedenfalls fand man unter dem Baum kaum ausgespuckte Kerne und in späteren Jahren hatte ich Mühe, diese Angewohnheit wieder abzulegen.
Frau Oelsner bewohnte das Obergeschoss ihrer Villa mit den Erkern, Winkeln und kleinen Treppchen. In der Beletage mit der imposanten Freitreppe wohnte jemand, dem es überschäumend gut ging: ein Schwarzhändler, der mit den Bedürfnissen der Besatzungsmacht, also den russischen Offizieren, paktierte, der von der Gunst der Stunde lebte und Abend für Abend die Korken knallen ließ. Am Tag standen die leeren Kartons und die geleerten Sektflaschen auf der Treppe, warteten darauf, abgeholt zu werden, am Nachmittag wurde nachgeliefert, am Abend ging der Saus und Braus los, während wir uns im Keller verkrochen und Frau Oelsner einen Stock höher höchstwahrscheinlich ein bitter-höhnisches Gesicht aufsetzte: Das Leben war schon eine bizarre Geisterbahn damals, aber irgendwann hat der Sozialismus dem Treiben in der Beletage ein Ende gesetzt.
Der Beletagebewohner, der sogar ein Auto fuhr – welche Marke, weiß ich nicht mehr –, war, obwohl etwas zu füllig, ein Mann voller Energie, blond, aber das Haar war weitgehend einer Glatze gewichen, ohne dass es seinem virilen Charme Abbruch tat. Er schwitzte eigentlich immer, hatte Schweißperlen auf der hohen Stirn und auf der Oberlippe. So habe ich mir später die Spekulantentypen der jeweiligen Zeit vorgestellt – vom Schwarzmarkt bis zur New Economy, von den Kriegs- und Nachkriegsgewinnlern bis zu den Brüdern Haffa. Er war der Typ, der die Feste feierte, bis er fiel.
Wenn man die Bühne besetzt, auf der man sein Leben zum Theater verdeutlicht, greift man gern auf frühe Rollenerfahrungen zurück, ob es um die komische Alte, den Hagestolz, den jugendlichen Liebhaber, den Confidenten, den Intriganten oder den wendigen Kaufmann und Konjunkturgewinnler geht. Ich habe mich später, natürlich abgesehen von Shakespeare, bei dem das neuzeitlich bürgerliche Theater sowie sein königliches Vorspiel so grandios bis in die letzte Rolle ausgeleuchtet wurde, mit Vorliebe auf Nestroy bezogen – auch er hat ja eine Zeit gewaltigen Umbruchs und bürgerlicher Umwälzungen, ein verstörtes Personal, das nicht verstört sein wollte, porträtiert. Natürlich auch auf Tschechow und Wedekind, auf Schnitzler und Horvàth.
Ich weiß nicht, was aus dem Schieber geworden ist, der traumtänzerisch über die elende Zeit balancierte wie über ein zum Kirchturm heraufgespanntes Seil, höher und höher im Scheinwerferlicht und zu schnell am Ziel. Wie ist er abgestürzt? Und wo? Und ist er überhaupt abgestürzt? Wegen Wirtschaftsverbrechens ins Gefängnis geworfen, gar wegen Buntmetallschiebereien auf Jahre in Bautzen eingelocht? Oder zum Tode verurteilt und hingerichtet? Dergleichen war ja durchaus drin, damals. Oder in den Westen abgehauen, dort ein neues Leben angefangen? Oder geblieben, mit den neuen Herren paktiert, ein kleiner Schalck-Golodkowski geworden? Für mich seiltanzte er nur einen Sommer und eine Wintersaison. Die besonders.
Es war die Zeit, in der meine Geschwister allesamt Läuse bekamen, ich seltsamer Weise nicht, jedenfalls zuerst nicht. Als meine Mutter das merkte – sie selbst war auch verlaust –, fing sie vor Scham und Demütigung zu weinen an. In unserer kleinen Wohnung stank es bestialisch nach Petroleum, mit dem die lebenden Läuse aus den Haaren meiner Geschwister
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