Auf der Flucht
Kunstlicht, also mit Scheinwerfern, und in Kostümen aus dem vorigen Jahrhundert. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, dass es so etwas gab, und habe mich, kaum hatten wir die Zimmer bezogen, schnell nach unten zurückgeschlichen. Geprobt wurde Friedrich Hebbels »Maria Magdalena«, das Stück, in dem das verführte Mädchen den gehassten Mann anfleht: »Heirate mich!« Und ihr wahrer Liebster sie mit dem Satz verstößt: »Darüber kommt kein Mann hinweg.«
Es war, soweit ich mich erinnern kann, der erste »Klassiker«, den ich sah, und natürlich fiel mir als Zwölfjährigem nicht auf, dass die Welt, die hier gezeigt wurde, längst von zwei Kriegen umgepflügt worden war. Und auch das fiel mir nicht auf: Wie beharrlich ein Selbstverständnis auf dem besteht, was nicht mehr existiert. Zwar mochte alles drunter und drüber gehen, die Gesellschaft wie mit einem großen Kochlöffel in einem großen Kessel durcheinander gerührt worden sein – hier galten die von Friedrich Hebbel angeklagten ehernen Moralgesetze noch. Es war schön, in einem Land zu sein, in dem Theater gespielt wurde. Ich stelle mir vor, dass vor einem Publikum, das gerade aus den Gefangenenlagern des Krieges gekrochen war, sich der Satz »Darüber kommt kein Mann hinweg!« geradezu abstrus unsinnig anhören musste – in dem von sowjetischen Truppen eroberten Teil, die über eine Million Frauen nach dem Einmarsch vergewaltigt hatten. Die deutschen Männer sind über ganz andere Sachen hinweggekommen – auch darüber, was sie im Krieg nicht nur erlitten, sondern was sie anderen an Leid zugefügt hatten. Die von Jan Philipp Reemtsma initiierte und gesponserte Wehrmachtsausstellung und die Empörung, die sie auslöste, machte deutlich, wie gründlich man mit seinen psychischen Schutzmechanismen »darüber hinwegkam«.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler trugen Kostüme, die an das Biedermeier erinnerten: die Männer Lederwämse über den weißen Hemden, Kniebundhosen, Schnallenschuhe; die Frauen einfarbige Röcke in kräftigen Farben, Mieder, Blusen, auch sie weiße Strümpfe. Während wir, heruntergekommen, kaum noch etwas anzuziehen hatten, umgab sie der Zauber eines »Fundus«. Die Schauspieler, die Hebbel probten, sahen aus wie kolorierte Volkslieder.
Die Wirklichkeit bestand darin, dass meine Mutter auf einem unserer zwei kleinen Zimmer eine Kochplatte hatte und einen Topf. Die Kochplatte bestand aus einer Spirale, die sich zwischen einer geborstenen grauen Keramikplatte in Haarnadelkurven wand und die sofort glühte, wenn man den Stecker in die Steckdose steckte. Die vier, fünf Tage, die wir im Hotel lebten, in dem »Maria Magdalena« geprobt wurde, litt ich keinen Hunger. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.
Aber wir konnten nicht »ewig« in dem Hotel bleiben, obwohl es etwas wohnungsähnlicher war als die Gaststube, in der es nicht einmal Betten gab. Und so ist der freundliche ältere Herr von der CDU in seinem grauen Anzug – er trug immer auch eine Krawatte – zu einer Gesinnungsfreundin, Frau Oelsner, gestiefelt, die in einer Villa in einem Park am Hügel wohnte, und die hat uns dann aufgenommen. Im Souterrain ihres hochherrschaftlichen Hauses hat sie die Waschküche und den Wäscheraum für uns zum Wohnen freigeräumt. Dort schliefen wir zu siebt in einem feuchten Kellerraum und hatten davor eine Behelfsküche, in der man sich auch waschen konnte.
Ich erinnere mich, wie ich an einem frühen Herbst- oder späten Sommertag durch den Park mit den Obstbäumen gegangen bin, vorbei an Spalierobst-Wänden am ehemaligen Kutscherhaus. Rechts neben der Villa aus gelben Ziegelsteinen und mit schönen Erkertürmchen, auf der anderen Seite der Auffahrt, die zu einer imposanten Treppe führte, hatte Frau Oelsner einen Gemüsegarten angelegt. Und da stand sie, die Schürze umgebunden, nach vorn in den Berg gebückt, mit festem Schnürschuhwerk in den Beeten, neben sich ihre etwas ältere Haushälterin. Frau Oelsner hatte aschblondes Haar, das alterslos war, und trug Handschuhe für die Gartenarbeit.
Von da an wusste ich, wie ich mir eine deutsche Frau der Oberschicht in den Kriegs- und Nachkriegsjahren vorzustellen hatte: zierlich und robust zugleich, von zupackender, unsentimentaler Tatkraft und im Gesicht einen leicht überlegenen Zug, der eine anwachsende Verbitterung dämpfte; sie hatte bessere Zeiten gesehen, aber sie würde sich durchschlagen, so lange es ging. Ihrer Familie hatte eine der Strumpfwirkereien oder
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