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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Filmtraum, abseits jeglicher gelebter und durchrittener Realität. Aus dem gleichen Grund hatten auch die Nazis ihn noch kurz vor Toresschluss und mitten im totalen Krieg drehen lassen. Ich jedenfalls konnte mich mit der »Fledermaus«, solange sie nicht von Stromsperren unterbrochen war, aus der Hunger-Wirklichkeit, aus der perspektivlosen Kälte der deutschen Realität flüchten: »Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist«, dieses unwiderstehliche Motto der Wiener Operette ist mir seit damals geblieben, als Grundausstattung eines achselzuckenden geistigen Schlendrians. Das Wienerische »eh!« ist mir geblieben, das da raunzt und schmeichelt: »Es ist eh nichts zu ändern!« »Es passiert eh alles, wie es passieren muss.« »Eh« heißt »sowieso«, heißt »ohnehin«, aber in dem lang gezogenen »eh!« liegt die ganze Wurschtigkeit, zu der der Wiener Charakter fähig ist, ein selig-unseliger Nihilismus.
    Soviel ich weiß, kommt dieses »eh« aber in der »Fledermaus« gar nicht vor. Aber die auf der Strauß'schen Melodie wiegenden Zeilen »Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist / Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist«, kommen, so viel ich mich erinnere, schon vor. Ansonsten ist der Film erbärmlich arm an Musik, das aber hat meiner Liebe zu ihm keinen Abbruch getan. Es war »eh« wurscht! Ich atmete den Geist dieser Operette durch die Haltung, den Charakter, die Attitüde des Helden ein. Durch Johannes Heesters.
    Johannes Heesters, der seine Operetten- und Filmtriumphe in Wien und Berlin in einer Zeit gefeiert hatte, die voll der martialischsten Gedanken und voll gepumpt mit der widerlichsten Ideologie war, stammte nicht aus Wien, sondern sprach Deutsch mit einem unverkennbar holländischen Akzent. Seltsamerweise hatten in der deutschesten aller Filmzeiten, den Jahren zwischen 33 und 45, die Stars alle ein ausländisches Flair und einen fremden, im Nazideutschland seltsam exotisch, ja obszön, zumindest erotisch wirkenden Akzent, der weit entfernt war von der Haken schlagenden, stiefelknallenden »Jawoll, mein Führer! Zu Befehl!«-Attitüde. Da gab es Zarah Leander mit ihrem geheimnisvoll dunklen Timbre, den weich-sinnlichen Ls (nicht umsonst viel später die Lieblings-Queen aller Homosexuellen), Lida Baarova mit ihrer tschechisch rollenden Stimme, Kristina Söderbaum, zwar die »Reichswasserleiche«, wie es spöttisch hieß, aber mit schwedischem Akzent, die paprikaselige Marika Rökk und die »chilenische Nachtigall« Rosita Serrano, die mir als Kind die erste kitschige Ahnung von tropischen Glutnächten vermittelte, in denen die Liebe schnell welkt wie in Deutschland der rote Mohn.
    Jedenfalls war Johannes Heesters in der »Fledermaus« jemand, der mit seinem zivilen Frack- und Lackschuh-Charme weder in die militante Kriegswelt noch in die ärmliche Nachkriegswelt passte. Ein Filou; jemand, der seine Frau betrügt und belügt; jemand, der wegen seiner erotischen Eskapaden in die Bredouille kommt. Für mich aber vor allem jemand, der Champagner trinkt und der das Leben offenkundig nicht ernst nimmt.
     
    Im Kino gab es im Vorprogramm manchmal auch einen Komiker, der traurige Hängebacken hatte, verschlissen, aber gut bürgerlich gekleidet war und der uns, oder mich allein, durch Grimassen, Wortspiele, Lebensanekdoten zum Lachen bringen wollte. Irgendwann in seinem Solo sagte er – er sprach natürlich Sächsisch –, das Wort »Butterbemme«. Er sagte nur das Wort »Butterbemme«, schüttelte sich dann traurig-kläglich, wackelte mit allen Gliedmaßen, strich sich mit seiner Hand über den Bauch, so als wollte er den armen Magen für seine Entbehrungen streicheln, und sagte dann noch einmal mit kläglicher Stimme: »Butterbemme.«
    Ich lachte. Aus Mitgefühl mit mir. Und aus Solidarität mit den anderen, die auch aus Hunger lachten. Und ich lachte mit dem Clown, dem es so elend ging wie mir und dem die Gedanken an ein Butterbrot schier die Tränen in die Augen trieben.
    Gefühle wie Schmerz, Hunger, Durst lassen sich in Wahrheit nicht erinnern. Wer in der Hitze sitzt und nicht friert, wird sich mit größter Vorstellungskraft und Phantasie nicht die Kälte, das klamme Gefühl, das Absterben der Gliedmaßen vorstellen können. Wir hungerten damals fürchterlich, aber auch vom Hunger lassen sich in Zeiten, in denen man sich mit einem missmutigen Blick auf seinen Bauchumfang sagt, »ich sollte weniger essen«, »ich sollte Diät machen«, nur

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