Auf der Flucht
mehrmals missbilligend den Kopf zu schütteln und dabei – »t, t, t« – mit der Zunge zu schnalzen, während er ein angeekeltes Gesicht machte, reagierte auch auf meine stammelnden Ausflüchte mit einem Kopfschütteln und einem mehrmaligen »t, t, t«. Er hat mich danach nie wieder privat angesprochen, bis er mir in den Westen meine Aufsatz-Hefte schickte (er hatte sie über Jahre aufbewahrt) und ausrichten ließ – ich glaube über meine Mutter –, ich hätte mich ihm gegenüber damals ruhig offenbaren können, von ihm hätte uns keine Denunziation gedroht. Trotzdem bin ich noch heute ganz benommen, wenn ich an die Angst denke, die seine Frage in mir freigesetzt hatte – eine Angst, die mich oft stundenlang schlaflos im Bett liegen ließ, wie einen Verbrecher, der fürchten muss, dass morgen seine Taten auffliegen.
Wenn ich heute daran zurückdenke, fällt mir ein, dass ich viele Jahre von einem variierenden, aber im Grunde gleich bleibenden Traum heimgesucht wurde, in dem ich jemanden umgebracht hatte und wusste: das würde nie verjähren und ich müsste ein Leben lang davor zittern, dass es aufkäme, es war meine Traumvariante von der Leiche im Keller. Ich wachte auf und brauchte einige Zeit, das Nachtgespenst abzuschütteln, zu begreifen, dass ich in einer hellen Wirklichkeit lebte, in der ich zumindest niemanden umgebracht hatte. Aber die Erleichterung darüber war seltsam unfroh.
Auch wird mir beim Zurückdenken klar, wie wenig ich damals in der Ostzone an einem Gymnasium hätte Angst haben müssen, der alte Lehrer würde mich, uns, bei den neuen Machthabern denunzieren. Es galt: Wir Deutschen, wir Besiegten müssen zusammenhalten. Aber auch dieser Gedanke macht mich nicht glücklicher.
Und schließlich weiß ich auch, dass ich damals dachte, ohne es zu Ende zu artikulieren, dass ich nur »vor den Russen« Angst haben müsste und dass ich, lebte ich in einer westlichen Besatzungszone, ehrlicher mit der Biografie meiner Eltern hätte umgehen können, weil, so schien es mir, nur hier die Verschleppung nach Sibirien, ja die Hinrichtung meines Vaters drohe, während die Familie in ein Arbeitslager in Sibirien verbracht würde – und was dergleichen reale oder in Angst herbeiphantasierte Schreckensvorstellungen mehr waren. Während uns »im Westen« nichts drohte. Das lag daran, dass mir damals noch nicht bewusst war, dass die Nazizeit aus Verbrechen bestand, die in allen zivilisierten Gesellschaften als Verbrechen galten. Nur manchmal, wenn es opportun war, wie im Kalten Krieg, tat man so, als könne man sie vergessen. Meine Angst war nur die, dass wir, die Besiegten, der Willkür der Sieger und noch dazu der Willkür so brutaler Sieger wie der Russen ausgesetzt waren.
Später, im Westen, kam ich mir zunächst »befreit« vor. Als ich aber dann erlebte, wie ehemalige Nazis mit ihrer Vergangenheit zu prahlen begannen, erst heimlich, nach dem dritten Glas Wein am Stammtisch später immer ungehemmter, da hat mich verspätet die Scham eingeholt, weil ich inzwischen las und studierte, welcher unvorstellbarer Verbrechen sich Deutsche zwischen 1933 und 1945 schuldig gemacht hatten. Mein Vater gehörte nie zu diesen Prahlern. Jetzt hatte ich keine Angst mehr vor der Vergangenheit, aber ich verschwieg sie, weil ich mich ihrer schämte. Ich wollte, auch als es längst »ungefährlich« war, keine Eltern haben, die Nazis gewesen waren. Ich verstand einige ihrer fehlgeleiteten Gründe, aber mir kam nie in den Sinn, mich mit ihrer Vergangenheit brüsten zu wollen. Ich wollte, da ich allen Grund hatte, meine Eltern zu lieben, sie nicht einmal in der Erinnerung beschmutzen. Was im Stalinismus blanke Angst war, wandelte sich in Scham.
Meine Erinnerung kann so direkte Erfahrungen wie Hunger, Kälte, Durst, Schmerz nur als Worte beschwören, denen keine wirkliche Wiederkehr des Gefühls von Hunger, Kälte, Durst, Schmerz folgt. Anders ist es mit dem Gefühl des Schämens. Während ich mich daran erinnere, schäme ich mich wieder.
Ein Kommunist
In Stollberg hatte ich kurze Zeit einen Freund, er hieß Hans, war ein angenehm ernsthafter Junge, Flüchtling wie ich, und ich erinnere mich, wie wir einmal im Frühjahr 1946 zusammen aus der Stadt gegangen sind, vorbei an den noch kahlen Feldern, die Stadt hinter uns. Worüber wir uns unterhalten haben? Über uns, und über unsere Väter, aber als er mich nach meinem Vater fragte, begnügte ich mich mit der vagen, halb falschen Antwort, dass mein Vater Soldat
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