Auf der Flucht
gewaschen wurden. Danach musste man sie lausen. Mit einem Läusekamm. An den Haaren saßen noch kleine, weiße Punkte. Die Nissen, die Eier der Läuse. Sah man sie, hat man sie zwischen Daumennagel der Rechten und Daumennagel der Linken geknackt, zerdrückt. Das machte ein leises, knisterndes Geräusch, das einem signalisierte, die Kopflaus-Nisse ist vom Leben in den Tod befördert worden. Ich half meiner Mutter, die Nissen an den Köpfen meiner Geschwister und an ihrem Kopf zu knacken. Noch heute sehe ich die eng stehenden dünnen Zähne beidseitig am weißen Läusekamm. Es dauerte Wochen, bis wir die Läuse besiegt hatten.
Später, als Student in München, nach einer feuchtfröhlichen Nacht in einem Lokal am Münchener Viktualienmarkt, merkte ich (ich hatte mit einer dicken blonden Frau so lange geschunkelt, bis wir irgendwo im Bett landeten), dass es in meinen Leisten juckte. Als ich die Läuse entdeckte, habe ich vor Panik und Erinnerung an die Läuse in Stollberg geweint. Es war, als hätten mich der Dreck und das Elend wieder eingeholt.
Die Fledermaus in der Stromsperre
In Stollberg bin ich oft ins Kino gegangen, vor allem im Herbst und Winter, an dunklen, feuchtkalten Nachmittagen. Das winzige Kino lag in einer kleinen ansteigenden Straße, der Kinosaal war über eine Treppe im ersten Stock zu erreichen. Geheizt war er nicht, aber die Kälte war mit Decke, Schal und Mantel einigermaßen erträglich. Und wenn die Nachmittagsvorstellung anfing, saß ich manchmal fast alleine in dem kleinen Kinosaal und wartete, dass es dunkel wurde. Manchmal wurde es zu sehr und zu lange dunkel, dann war Stromsperre und wir mussten oft stundenlang darauf warten, dass der Film endlich anfing. Manchmal fing er auch pünktlich, zur vorgesehen Zeit um 16 Uhr oder 17 Uhr, an, aber kurz darauf starb der Ton jaulend ab und das Bild wurde dunkel. Dann trat der Filmvorführer mit einer Taschenlampe ins Kino und sagte, es sei Stromsperre und die Filmvorführung werde fortgesetzt, sobald der Strom wieder da wäre. Das konnte zehn Minuten dauern, eine halbe Stunde, aber es konnte auch Stunden dauern und manchmal wurden wir, oder ich allein, aus dem Kino nach Hause geschickt und auf den nächsten Tag vertröstet. Warum die für mich allein am Nachmittag ihre Filme spielten, ist mir ein Rätsel, vielleicht, weil Geld damals so gut wie keine Rolle spielte. Sogar die Einmann-Shows, Kabarett-Programme, Gesangsdarbietungen, Musikstücke und Zaubereien, die damals regelmäßig vor dem Filmprogramm stattfanden, wurden dargeboten, wenn ich und zwei, drei andere allein im Kino saßen.
Ich erinnere mich eigentlich nur an einen Film, den aber habe ich, trotz der Stromsperren, immer und immer wieder gesehen, ich weiß gar nicht, wie oft. Das war die »Fledermaus«.
»Die Fledermaus« war ein Film, bei dem Geza von Bolvary Regie geführt und Ernst Marischka das Buch, natürlich nach der Operette der Operetten, nach Johann Strauß' »Fledermaus«, geschrieben hatte. Geza Maria von Bolvary-Zahn, 1897 in Budapest geboren, hat vor der Nazizeit mit dem Wiener Drehbuchautor Walter Reisch zusammengearbeitet. Reisch emigrierte vor 1938, dem »Anschluss« Österreichs, über England nach Hollywood, er schrieb 1934 den hinreißenden Wien-Film »Maskerade«, über den Reich-Ranicki – sonst, im Unterschied zu seiner Frau, nicht gerade ein Kinofreund, sondern eher ein Opernfan und Theaternarr – bis heute ins Schwärmen gerät. Und er war mit Lubitsch und Wilder an dem Drehbuch des unsterblichen Garbo-Films »Ninotschka«, 1939, beteiligt. Von Bolvary-Zahn hat im »Dritten Reich« sozusagen mit gebremstem Schaum erotische Wien-Filme zu drehen versucht. In den fünfziger Jahren machte er dann unsägliche Schnulzen wie »Ja, ja, die Liebe in Tirol« (1955), die »Schwarzwaldmelodie« (1956), »Was die Schwalbe sang« (1956) oder »Zwei Herzen im Mai« (1957). Allein die Titel jagen einem heute alle Schrecken des damaligen Heimatfilms über den Rücken. Der Weg dorthin war schon in der »Fledermaus« vorgezeichnet.
Dieser Film ist, wie ich später herausgefunden habe, ein so genannter Überläufer-Film, das heißt, unter den Nazis war der Film noch gedreht und von der russischen Besatzungsmacht und ihren Kulturoffizieren in Babelsberg fertig geschnitten und bearbeitet worden. Und, er war von den sowjetischen Verantwortlichen gar nicht darauf getrimmt und abgerichtet, den Deutschen etwas anderes zu bieten als eine vorübergehende Reise in einen
Weitere Kostenlose Bücher