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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Sekundärsymptome ins Gedächtnis zurückrufen.
    Ich erinnere mich an so abstruse Vorgänge wie den, dass wir in der kalten Dämmerung stundenlang, mit Kannen und Töpfen bewehrt, vor einer Fleischerei standen, weil da Wurst gekocht wurde, und daher angeschrieben stand, es würde die Brühe anschließend verkauft, die Wurst gab es ohnehin nicht. Und nach Stunden in der Dunkelheit erhielt man ein paar Kellen voll von einer vollkommen wässrigen, eigentlich bis auf ein paar Fettaugen kalorienlosen Brühe, die leicht geräuchert roch und mit viel Salz auch ganz leicht geräuchert schmeckte. Manchmal, dann hauptsächlich wegen der Stromsperre, wartete man auch vergeblich. »Leute, heute gibt es leider nichts«, wurde man vom Fleischer beschieden. Und ohne Murren ging man dann, nein, schlurfte man nach Hause.
    Ich erinnere mich an Brennnessel-Suppen, deren Blätter pelzig am Gaumen klebten, an dünne Suppen von Kartoffelschalen und daran, dass bei uns nach Plan immer ein Kind »dran« war, das den Topf auslecken durfte. Die Teller wurden ohnehin abgeleckt, hochgehoben und mit der Zunge blank geschleckt. Das alles machte mehr Hunger, als es satt machte.
    Als Symptom der wahnsinnig machenden Hungerleiderei wurde damals registriert, dass in Chemnitz ein Mann seine Schwester geschlachtet, eingepökelt und nach und nach aufgegessen habe.
    Ich will aber die Geschichten vom Hunger, so furchtbar er war, nicht nachträglich übertreiben. Wir, meine Geschwister, meine Familie und ich, haben von den Hungerzeiten keine bleibenden Schäden (jedenfalls keine erkennbaren, später diagnostizierbaren) davongetragen.
    Ich war, nach dem Jahr ohne Schule, ohne Schwierigkeiten in die meinem Alter gemäße Klasse der Oberschule aufgenommen worden. Auch das eine Rückkehr zu einer deutschen Normalität. Ich denke noch mit wohligem Gefühl daran, wie ich durch den mir gepflegt vorkommenden Park, der in meiner Erinnerung groß ist, mit prächtigen herbstlich gefärbten Bäumen, durch die golden die Sonne bricht, auf die schöne Schule zuging, um von ihrer Ordnung aufgefangen zu werden, eingewiesen, auf Vordermann und in Reih und Glied gebracht. Ich habe keine schlechten Erinnerungen an diese Zeit, obwohl ich einmal von einem greisen Lehrer, der einen weißen Haarkranz um seine rote Glatze hatte – er hieß Schumann und spielte am Klavier bei Schulfeiern Schumann-Musik (meist die »Träumerei« aus den »Kinderszenen«) –, schon in der Pause, er war nach der Stunde eigens dazu noch einmal zurück in die Klasse gekommen, vorgerufen und geohrfeigt worden bin, weil ich mich in albern parodistischer Art über ein Gedicht, das wir auswendig lernen mussten, hergemacht hatte, als Clown der Mitschüler. Ich spüre die Scham, mit der mir die Wange brannte. Und wie die anderen in ihrem Gelächter erschrocken verstummten.
    Aber das war nicht wichtig. Ich denke an einen Mitschüler – der Vater hatte eine Mühle –, der mit einer richtigen Scheibe Brot in die Schule kam, trockenes Brot zwar, aber frisch geschnitten und die Scheibe groß und nicht zu dünn. Und wie ich, damit mir die Augen vor Gier (oder soll ich sagen: Sehnsucht!) nicht aus dem Kopf fielen, in der Pause beiseite ging, um ihm nicht beim Essen zusehen zu müssen.
    Natürlich hatte ich damals eine Vision, eine Zukunftsvision. Ich wollte später in einem Büro arbeiten, mit einem eigenen Zimmer, einem eigenen Schreibtisch. Und in einer Schreibtischschublade würde ich einen Brotlaib haben, ein Messer und ein Glas mit Erdbeermarmelade. Das war das Ziel, es kam mir wie der Endpunkt einer Schwindel erregenden Karriere vor. Außer dem Brot und der Marmelade und der Kommandogewalt über eine Gruppe von Angestellten (die ich mir nicht mit einem eigenen Schreibtisch und einer eigenen Schublade für ein eigenes Brot und eine eigene Marmelade vorstellte, Privilegien müssen schließlich sein!) gab es kein anderes Berufsziel.
    Zwei Jahre später, schneller, als ich gewachträumt hatte, hatte ich, wenn auch nicht reichlich, täglich Marmelade auf dem Brot, wenn auch noch keine Butter. Und noch später, als ich an einem Schreibtisch saß, wollte ich alles lieber essen als Marmeladebrote.
    In der Schule hinterließ neben dem Deutschunterricht der Biologieunterricht auf mich einen bleibenden Eindruck. Tag für Tag, Woche für Woche malte der Lehrer säuberlich mit Lineal und bunter Kreide Säulen an die Tafel, und mit Akkuratesse und Engelsgeduld Kalorienwerte von allen Lebensmitteln (die wir nicht

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