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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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hatten) darunter: Schweinefleisch, Rindfleisch, Kalbfleisch, Huhn, Kartoffeln, Reis, Butter, Milch, Erbsen, Bohnen, Linsen, Nudeln, Schwarzbrot, Weißbrot, Klöße, Speck, Wurst. Und so weiter und so fort. Die Säulen waren verschieden hoch, weil sie die Kalorienwerte pro 100 Gramm festhielten, 100 Gramm Speck war da eine deutlich höhere Säule als 100 Gramm Kartoffeln. Wir Schüler malten, mit Lineal und Buntstift, all die Kolonnen getreulich in unsere Schulhefte. Wir hatten alles, Käse, Salami, Schinken, Schlagsahne – auf dem Papier. Wochenlang haben wir mit Kalorientabellen geschlemmt. Man sagt, dass sich die Phantasie am liebsten – oder am zwanghaftesten – mit dem beschäftigt, was sie am meisten entbehrt. Unser Biologielehrer, ein freundlicher hagerer junger Mann in einem weißen Kittel, wie ihn Naturwissenschaftler an Schulen tragen, lenkte die Stillung des Hungers, an dem er sicher nicht weniger litt als wir, in messbare Säulen um, die sich aus den freundlichen Farben Gelb, Rot, Blau zusammensetzten. Gelb waren die Fettwerte, Rot die Eiweiße und Blau die Kohlehydrate. Und mit welcher Hingabe wir es registrierten, wenn ein Produkt reich an gelbem Fett war – bis heute muss ich mich zusammennehmen, um nicht über Speck und fette Fleischstücke herzufallen –, so als hätten die Säulen eine unstillbare Sehnsucht nach Gelb in mich eingepflanzt.
    Günter Grass hat mir einmal erzählt, dass er, nachdem er in Marienbad gefangen genommen worden war, mit seinen Mitgefangenen dauernd virtuelle Kochkurse veranstaltet habe, Essen sozusagen als Trockenschwimmen.
    Ich weiß vom Hunger nur noch eines ganz sicher: dass er einen voll beim Kragen packt, den ganzen Tag und die ganze Nacht, unabweislich wie ein großer Liebeskummer oder wie die Trauer über einen großen Verlust.
    Und dass er nicht verebbt, bevor er gestillt wird. Der Hunger bestimmte unsere Bewegungen und unsere Handlungen, er war die einzig wirkliche Antriebskraft, an die ich mich erinnere – obwohl ich damals in der Schule »Das Lied von der Glocke« oder den »Taucher« oder die »Kraniche des Ibykus« oder die »Bürgschaft« auswendig lernen musste und gerne auswendig lernte, so dass ich bis heute randvoll mit geflügelten Worten der Klassiker herumlaufe, ein lebender Büchmann. Die Schule führte uns, ohne dass sie es merkte und ohne dass wir es wussten, zurück in eine bürgerliche Lebensweise, der alle Normen, so als wäre nichts geschehen, erhalten geblieben waren – bis auf das Essen und bis auf die Lebensumstände. Aber davon abgesehen hätte unsere Oberschule auch zu Zeiten des Kaiserreichs oder der Wiemarer Republik oder der »Feuerzangenbowle« angesiedelt sein können.
     

Ein Gespenst aus der Vergangenheit
     
    Mit meinem späteren Deutschlehrer Cibulka verbindet sich eines der verstörendsten Erlebnisse jener Jahre, als er mich nämlich eines Tages – er brachte uns seit einem halben Jahr den »Wilhelm Teil« nahe – fragte, ob ich und meine Eltern nicht aus Bielitz seien, er habe da gewohnt. Das war noch mitten in den Jahren, die man später als Stalinismus bezeichnet hat, wahrscheinlich 1948. Ich weiß noch, wie ich mit ihm allein nach dem Ende der Stunde in der Klasse stand, als er mir diese Frage stellte. Ich war von Angst wie betäubt. Würden wir jetzt auffliegen? Würde alles zu Ende sein? Würde mein Vater verhaftet werden, als Nazi entlarvt, nach Russland, nach Sibirien deportiert werden? Würden wir in Schmach und Schande enden? Ein Schwindel erfasste mich und ich schüttelte heftig den Kopf. Nein, nein, niemals – nie wären wir in Bielitz gewesen. Er sah mich mit schrägem Kopf an und sagte: Ich solle doch meine Eltern fragen, ob ich mich nicht täusche. Ich stürzte nach der Schule nach Hause. Meine Erzählung von Cibulka, der uns aus Bielitz zu kennen vorgab, stürzte nun meine Mutter in Angst und Schrecken. Und am Abend, als mein Vater nach Hause kam, wurde auch der vor Unruhe blass, setzte sich und starrte minutenlang vor sich hin. Wir beratschlagten stundenlang und kamen zu dem verzweifelten Schluss, ich sollte bei meinem Leugnen bleiben, sollte ihm sagen, da müsse eine Verwechslung vorliegen. Nicht dass meine Eltern und ich annahmen, er würde mir glauben. Sie hofften eher, dass er unsere Version, unser Versteckspiel schweigend akzeptieren werde.
    Das hat er dann auch getan. Mir war sterbenselend, als ich ihn anlog. Und er, der die Angewohnheit hatte, während des Unterrichts bei einer falschen Antwort

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