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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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sowjetische Soldaten sich mit deutschen Mädchen zum Trinken und Tanzen getroffen hätten (wie ich das später in Wiesbaden oder Stuttgart von den »Amis« gehört und mit ihnen erlebt habe). Es war nicht erwünscht und die Russen galten in der deutschen Bevölkerung mit ihren Papirossy, ihrem fuseligen Wodka und ihren Sonnenblumenkernen als arme Schlucker.
    Es gab also keine Gespräche, Diskussionen oder Auseinandersetzungen über den Krieg zwischen Besatzern und Besetzten, jedenfalls in den ersten Jahren nicht und jedenfalls nicht in der Schule. Und was die »öde Gleichmacherei« des Kommunismus anlangte, die viele Deutsche befürchteten, so hörten wir mit Spott erzählte Geschichten über die Rote Armee: dass es da bis zu zwölf verschiedene, hierarchisch abgestufte Essensrationen gebe. Und jeder, der russische Militärs beobachtet hatte, wusste zu berichten, er hätte gesehen, wie Offiziere einfache Soldaten schlicht zusammenprügelten – wie Leibeigene. War das der Kommunismus? War das der Sozialismus, der doch bald darauf siegen würde? War das die Botschaft aus dem fortgeschrittensten Teil der Menschheit, der über »ein Sechstel der Erde« bestimmte? War das die Zukunft, in der »ein Sechstel der Erde« bereits angekommen war?
    Natürlich wurde uns auf diese nicht ohne Häme vorgebrachten Fragen von Verfechtern des Sozialismus (das waren anfangs nur wenige) gerne erwidert, wir müssten sehen und dürften nicht übersehen, welche barbarischen Verwüstungen die mordenden und brandschatzenden deutschen Armeen in der Sowjetunion hinterlassen hatten – Millionen Tote, verbrannte Erde. Diese Tatsache mochten wir nicht leugnen. Aber die zivilisatorische Gesinnung, die das Erscheinungsbild der Roten Armee bot, schien trotzdem wenig geeignet, uns das angekündigte und versprochene Bild vom neuen Menschen zu zeigen.
     

Mit Ernst Bloch im Theater
     
    1961 war ich Dramaturg an den Württembergischen Staatstheatern und es war mir gelungen, Rudolf Noelte für eine Inszenierung von Carl Sternheims »Snob« zu gewinnen: Er machte aus dem Stück eine böse Satire und eine menschliche Katastrophe des Aufsteigers im wilhelminischen Deutschland. Die Aufführung war unser Stolz und so luden wir Ernst Bloch in eine Vorstellung ein. Nachher hatte ich das Glück, mit dem erst kürzlich von Leipzig nach Tübingen umgezogenen Philosophen und seiner Frau zusammenzusitzen, zu dritt. Wir kamen auch auf die Utopie des Sozialismus zu sprechen. Und Bloch erzählte, woran ich mich noch gestochen scharf erinnere, dass Karl Marx im »18. Brumaire« prophezeit habe, die neue Epoche einer sozialistischen, einer kommunistischen Menschheit werde dann beginnen, wenn der gallische Hahn (also Frankreich) sie mit seinen Flügelschlägen einleiten und einläuten würde.
    Nach der Oktoberrevolution hätten viele über die falsche Prophezeiung von Marx gelächelt – nicht Frankreich, sondern Russland habe die neue Epoche der Weltgeschichte in Bewegung gesetzt. Heute, so Bloch damals, 1961, heute lächele niemand mehr. Denn was sei in Russland 1917 wirklich geschehen? In einem rückschrittlichen, nicht industrialisierten Feudalstaat mit fast noch leibeigenen Bauern, einer noch nicht zu den bürgerlichen Freiheiten emanzipierten Autokratie habe eine entschlossene Gruppe Revoluzzer den Zaren gestürzt und ihr diktatorisches Regime etabliert. Der Beginn des neuen Zeitalters stehe also immer noch aus, warte immer noch auf den Ausbruch der Revolution in Frankreich. Es ist dies eine Variante des Satzes von Leo Trotzki: »Wir haben den Kapitalismus überall da besiegt, wo es ihn noch gar nicht gab.«
    Es war anrührend zu sehen, wie Bloch seine Utopie zu retten versuchte. Aber es war klar, wie er das einschätzte, was sich in einem »Sechstel der Erde« abgespielt hatte. Wir haben inzwischen weitere Stationen dieser Utopie begraben. Maos Revolution, die von den Roten Khmer ganz zu schweigen. Und Fidel Castros angebliches Fanal für einen Aufbruch. Wir sind um einige Utopien ärmer. Aber haben wir neue gefunden? Und leben wir nicht ohne Utopien ärmer, flacher? Und weniger blutrünstig?
     
     
     

Ameisenstaat
     
    Wenn ich an das Nachkriegsdeutschland der ersten Jahre denke, dann drängt sich mir das Bild von einem Ameisenstaat auf, in dem übermächtige Willkür schreckliche Verwüstungen angerichtet hat, so als habe der Krieg mit einem wuchtigen Stiefel blindwütig in eine organisierte Welt getreten. Viele der Gänge, Verbindungen, sozialen

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