Auf der Flucht
eine Frau als Lilli-Marleen-Silhouette zeigten (»unser beider Schatten sah'n wie einer aus«) fragten drohend: »Kennt ihr euch überhaupt« und übten eine schauerliche Faszination aus.
Ich hätte ohnehin nicht gegen den Wind gebrunzt, schon aus praktischen Erwägungen. Aber während ich mit dem Wind pinkelte, dachte ich: Also so sind sie doch, die Proleten, die Kommunisten, mit ihren Kneipen, ihrer freien Liebe, ihren Mannweibern, den ledigen Kindern, der Promiskuität (für die ich natürlich noch keinen artikulierten Begriff, sondern nur eine lockende Vorstellung voll drohender Verheißung hatte). Sie müssen immer Angst vor Tripper haben! Und brauchen die Ausrede mit dem Wind!
Von »den Russen«, wie die Besatzungssoldaten hießen und nicht Sowjet-Armee oder Rote Armee, während ihre Eigenarten »dem Russen« in der Einzahl zugeschrieben wurden, von den Russen also war in der sowjetischen Besatzungszone weniger zu sehen als in Schlesien – jedenfalls wenn man nicht in der Nähe einer ihrer Garnisonen wohnte oder in der Nähe von Grenz- und Sperrgebieten. Im Erzgebirge lag so ein Tabu-Gebiet, östlich von Stollberg und Oelsnitz, bei Aue, wo – wie mehr gemunkelt als berichtet wurde – deutsche Bergleute, zwangsverpflichtet und vom Rest der Bevölkerung ziemlich gründlich abgeschottet, uranhaltiges Erz abbauten. Das brauchte »der Russe« für die Atombombe, die »der Amerikaner« schon hatte und die »der Russe« deshalb bauen wollte. Wir verstanden damals noch nichts vom Gleichgewicht des Schreckens und dessen segnender Eigenschaft, zwar Furcht und Terror zu verbreiten, aber die Welt im Frieden zu halten.
»Die Russen« in ihren lehmfarbenen Uniformen mit pludrigen Hosen über kurzen Stiefeln, schiefen Käppies auf den meist kahl geschorenen Köpfen waren meist klein und drahtig, eher untersetzt und hatten dunkle Mandelaugen in gelblichen Gesichtern. Ihre europäischen Kameraden dagegen waren eher ungeschlacht groß, hatten rote, eckige, vierkantige Gesichter und wirkten mit ihren weißblonden Haarstoppeln wie geschnitzte Märchenriesen: fremd, freundlich, aber unberechenbar, apathisch oft, mit ihrer seltsam gutturalen Sprechweise.
Sie saßen mit schier unendlicher Geduld am Ackerrand, griffen in ihre Hosentaschen, zogen eine Hand voll schwarzer Sonnenblumenkerne hervor, hielten sie in der offenen Linken, während sie mit der Rechten die Kerne pausenlos in den Mund schoben, pausenlos kauten und die aufgebissenen Schalen durch die Mundwinkel seitlich ausspuckten. Sie grinsten uns über die Straße hinweg an, mal freundlich, mal feindselig, und scheuchten uns (Dawai! Dawai!) weg oder lockten uns (Idi suda!) heran. Sie wirkten eher geduckt, nicht wie Sieger, und wir wussten und hörten, dass sie mit den Deutschen wenig Kontakt haben sollten – die deutsch-sowjetische Freundschaft gab es noch nicht.
Wir lernten damals in der Schule noch keineswegs Russisch, und wenn die Soldaten singend vorbeimarschierten, will jeder Ohrenzeuge gehört haben, dass ihr Lied wie »Leberwurscht! Leberwurscht!« klang. Und natürlich habe auch ich das gehört und mich später gefreut, wenn ich es in Berichten und Erzählungen aus dieser Zeit wieder fand.
Die Zeiten des Plünderns und Vergewaltigens waren vorbei, die Russen streng kaserniert und von der deutschen Bevölkerung isoliert, und die unmittelbaren Nachkriegsgeschichten von den Russen verloren sich allmählich in den Bereich von Legenden. Dazu gehörten das »Zapzarap« und »Uri, Uri«, wenn sie Deutsche plünderten, ihnen ihre Fahrräder und Uhren wegnahmen. Gutmütige, unbeholfene, manchmal unberechenbare Barbaren waren sie für uns, der Trunksucht zuneigend, die sie dann auch gefährlich machte – aber eigentlich waren die scheußlichen Majorka-Tabak, mit beizendem Gestank in Zeitungspapier gewickelt, Rauchenden harmlos – hätten sie nicht mit wahlloser Wut, Gier und Brutalität so viele Frauen und Mädchen vergewaltigt. Aber auch das vorbei, die Erwachsenen erzählten einander, dass darauf inzwischen längst die Todesstrafe stünde, und als ich nach Bernburg kam, also 1947, hörte ich, dass auf einem öffentlichen Platz Russen exekutiert worden seien, die sich einer Vergewaltigung schuldig gemacht hatten.
Anders als bei den »Amis«, die ja was zu bieten hatten (Nylons für die »Frauleins« und »Veronicas«, Schokolade, Coca-Cola, Nescafé, Zigaretten, Kaugummi), gab es das übliche Fraternisieren nicht und ich weiß auch nichts von Lokalen, in denen
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