Auf der Flucht
gewesen sei. Darauf sah er mich an und überraschte mich damit, dass er mir erklärte, sein Vater sei Kommunist. Ich sah ihn an und gab mir Mühe, nicht erschrocken zu wirken: ein leibhaftiger Sohn eines leibhaftigen Kommunisten! Und: Deutscher. Waren nicht alle Kommunisten Russen? Ich hatte noch nie einen Kommunisten, auch nicht den Sohn eines Kommunisten zu Gesicht bekommen und war erschrocken. Erschrocken nicht darüber, von einem Freund etwas Gutes über seinen Vater zu hören, der Kommunist war. Obwohl wir in der Ostzone lebten, hatte das Bekenntnis zur politischen Zugehörigkeit seines Vaters nichts Karrierehaftes, Ranschmeißerisches an die herrschende Besatzungsmacht – das noch nicht.
Von den Russen sah man wenig, hörte mehr über sie, zum Beispiel über die Demontagen, die sie befahlen, aber die Zone war in ihrer politischen Verwaltung damals noch nicht gleichgeschaltet, es gab noch keine Einheitspartei und auch von der Unterwanderung ihres Besatzungsgebietes, in dem Parteien wie die CDU oder die SPD mehr Mitglieder hatten als die KPD, war – jedenfalls für einen Zwölfjährigen – noch nicht die Rede. Eher hat die Tatsache, dass sein Vater Kommunist war, Hans für mich interessanter gemacht. Kommunisten, das waren Menschen, die von den Nazis bekämpft worden waren – ich stellte sie mir heroisch vor, wie in Stein gehauen oder in Erz gegossen. Aber das auch nur sehr vage, denn es spukten auch die Vorstellungen durch meinen Kopf, die die HJ-Lieder in mir hinterlassen hatten: Kommunisten, das waren diejenigen, die in der »System-Zeit« (also vor 1933) SA-Leute wie Horst Wessel erschlagen hatten. (»Als die goldne Abendsonne sandte ihren letzten Schein / Zog ein Regiment von Hitler in ein kleines Städtchen ein / Traurig klangen ihre Lieder …«, denn sie trugen einen Kameraden zu Grab, den »Rotfront« erschlagen hatte.) Meine kindliche Phantasie verband mit Kommunisten grobe Proletarier mit Ernst-Thälmann-Schädeln, die in Lederjacken herumliefen, die Faust geballt, die rote Fahne in der Hand. Und sie kamen aus finsteren Kneipen, in denen Proleten Schnaps und Bier tranken und es eventuell mit groben Weibern trieben. Freie Liebe, keine Bindung! Das alles stellte sich nicht artikuliert dar, sondern neblig verschwommen, mehr atmosphärisch. Hatte ich darüber von meinem Vater gehört? Ich weiß es nicht. Jedenfalls fürchtete ich die Kommunisten, weil sie für den Zwölfjährigen eine Bedrohung darstellten: Sie wollten eine Welt, die ich nicht wollte. Ich hatte jene kleinbürgerlichen Ängste, die neben den realen Gründen – also dem stalinistischen Terror – den Antikommunismus päppelten.
Aber das wirklich Schlimme war etwas ganz anderes. Das Schlimme war, dass mir ein Junge, der mein Freund werden sollte, auf der hehren Grundlage »Vertrauen gegen Vertrauen« auf einmal stolz oder zumindest trotzig erklärte, »mein Vater ist Kommunist«, was auch hieß: er steht auf Seiten der russischen Besatzer. Und ich, ich konnte ihm nichts entgegensetzen, jedenfalls keine Wahrheit über meinen Vater und also auch keine Wahrheit über mich. Ich spielte mit ihm kein ehrliches Spiel, konnte mit ihm – schon aus Selbsterhaltung – nicht ehrlich sein. Und einen traurigen Augenblick lang wusste ich: Wir können keine wirklichen Freunde sein, ja ich muss vor ihm auf der Hut sein, muss aufpassen, dass mich mein Gefühl nicht hinreißt, ihm mehr zu sagen und zu gestehen, als ich ihm sagen und gestehen darf. Dieses Gefühl, schweigen zu müssen, allen gegenüber etwas zu verschweigen, hat mich nie mehr losgelassen – jedenfalls die nächsten Jahre nicht. Noch ehe ich meine verdrucksten Geheimnisse der Pubertät hatte, gab es schon eine dunkel verschwiegene Ecke, deren Geheimnisse ich für mich behalten musste, aus purer Angst.
Der Spaziergang mit Hans hatte dann noch ein (aus der Rückschau) groteskes Ende. Wir mussten urinieren (brunzen hätte ich in Bielitz gesagt, sagte ich jetzt schon: pissen oder pinkeln oder schiffen? Ich weiß es nicht) und stellten uns an den Wegrand. Es war windig und Hans sagte, sein Vater habe ihm gesagt, man dürfe nie gegen den Wind … vielleicht sagte er: pissen. Denn sonst bekäme man den Tripper, man würde geschlechtskrank. Wie die Windpocken bekäme man den Windtripper. In den vierziger Jahren und den Wirren des Nachkriegs ging die Angst vor Syphilis und Tripper um, in Deutschland war Penicillin noch ungeheuer schwer zu beschaffen. Plakate in den Straßen, die einen Mann und
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