Auf der Flucht
»Galgenhumor«.
Galgenhumor zeigt auch keinen Frust an, sondern den Willen zum Überlebenskampf. Viel, viel später, als Udo Lindenberg in einigermaßen missverstandener Koexistenz (Wandel durch Annäherung hieß die Parole) mit dem Staatsratsvorsitzenden der maroden DDR, Erich Honecker, flirtete, sang er ihm etwas, das eine Parodie auf die Parodie des Chattanooga Choo Choo war – »Der Sonderzug nach Pankow«. Aber auch der steht inzwischen auf dem Abstellgleis.
In Stollberg auf der Schule mit der schönen Jugendstilaula und den rustikal grobschönen Wandbildern von Bauern und Erziehern blickte ich, während wir die krächzenden Streicher des Schulorchesters umringten, bald verliebt auf Rosie Stiehler, die eine blonde Lockenfrisur hatte, eine mausgraue Kaninchenfelljacke, im Winter Stiefelchen, und in meiner Klasse schräg vor mir saß, von wo aus sie mir ab und zu einen halb verschämten, halb unverschämten Blick zusandte. Einmal planten wir eine Weihnachtsfeier in einem Dorf höher in den verschneiten Bergen bei einem Mitschüler, und als bei der Vorbesprechung in der Klasse einer maulte, weil er nicht bei einem anderen am Abendbrottisch sitzen wollte, habe ich ihn angeherrscht, er solle sich nicht so haben, ich würde auch am liebsten neben Rosie Stiehler sitzen, würde mich aber in mein Los fügen. Und Rosie sandte mir, als ich das mutig laut sagte, ein Liebespartisan, der sein Versteck für einen jähen Ausfall verlässt, einen innigen, dankbar glücklichen Blick zu.
Von dieser Weihnachtsfeier weiß ich so gut wie nichts mehr, von der Heimfahrt umso mehr. Rosie Stiehler, ich und einige andere Schüler mussten am Abend in Stollberg nach Oelsnitz umsteigen, und dann saßen wir stundenlang wartend, eingeschneit in einem dunklen kalten Zug, während die dicken Flocken vor dem Fenster wirbelten, ich und Rosie Stiehler in eine Ecke gedrückt, niemand konnte uns sehen. Und auf einmal küssten wir uns, wir waren keine Dreizehn, und da der Zug lange stand, haben wir uns auch lange geküsst, immer und immer wieder. Und irgendwann hat mir Rosie zugeflüstert: »Wirst du mich auch nicht verraten?« Es war ein heiseres, erregtes Flüstern und ich habe es als sehr sächsisch im Ohr. Und ich schüttelte tapfer den Kopf, »Mm, mm«, was eindeutig »Nein!« heißen sollte.
In Neu-Oelsnitz bin ich dann ausgestiegen, und Rosie fuhr noch weiter. Ich habe meiner Mutter, die schon seit Stunden auf mich wartete, von meinem Glück erzählt, und meine Mutter hat mich ermuntert, das nicht zu vergessen, so etwas Schönes würde ich nie wieder erfahren. Ich war ihr dankbar, vor allem dafür, dass sie nicht sagte, ich hätte etwas Falsches, Unrechtes getan. Geholfen hat es mir nichts, jedenfalls nicht bei Rosie, denn vom nächsten Morgen an waren Weihnachtsferien. Mir blieb nichts, als die Strecke bergab vom nächsten Morgen an in Rosies Ort Oelsnitz täglich zu laufen, aber ich habe mich nicht getraut, in die Nähe der Bäckerei ihres Vaters zu kommen, auf den fast menschenleeren, winterlichen Straßen wäre ich mir auffällig vorgekommen – wie ein bunt gefärbter geiler Hund, der vor Gier hechelt, während ihm der Geifer aus dem Mund läuft. Ich lief kilometerweit bergab und dann wieder bergauf, niemand kam mir auf der Landstraße entgegen außer einem eisig kalten Wind, der mir ins Gesicht fuhr. Ich hatte mir ein Landsknechtslied ausgedacht, das nur aus einer Zeile bestand und das ich im Laufrhythmus vor mich hinsang:
Weiß nicht, warum ich fröhlich bin
Weiß nicht, warum ich fröhlich bin
Weiß nicht, warum ich fröhlich bi-i-in
Weiß nicht, warum ich fröhlich bin.
Allein zu Hause rezitierte und sang ich leise und fast ununterbrochen das Hermann-Löns-Lied:
Rosemarie, Rosemarie
Sieben Jahre mein Herz nach dir schrie
Rosemarie, Rosemarie
Aber du hörtest es nie
Besonders die dritte Strophe hatte es mir angetan:
Jetzt bin ich alt, jetzt bin ich alt
Aber mein Herz ist noch immer nicht kalt
Schläft wohl schon bald, schläft wohl schon bald
Doch bis zuletzt es noch schallt.
Ich liebte diese Reime, und als der Schnee dem Winter wich und ich Rosie immer noch nur verschüchtert stumm anschwärmte und ihren Blick suchte, sie wich meinem aus, und mir meine Eltern eröffneten, dass wir nach Bernburg an der Saale umzögen – mein Vater müsse dann nicht mehr ins Bergwerk und wir hätten auch mehr zu essen, weil um Bernburg viele Tomaten wüchsen und auch sonst mehr als hier –, da war ich
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